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  • Reportage: Blaupause für den Artenschutz

    Reportage: Blaupause für den Artenschutz

    Blaupause für den Artenschutz – Reportage aus Galápagos anlässlich des Weltnaturgipfels in Kanada. Die gesamte Berichterstattung des SPIEGEL zur Uno-Biodiversitätskonferenz in Montreal 2022 in Kanada ist hier. Text und Fotos von Philip Bethge.

    Mehr Fotos von Philip gibt es auf EyeEM.

  • ‘Paradise Lost’: How To Help Our Oceans Before It’s Too Late

    ‘Paradise Lost’: How To Help Our Oceans Before It’s Too Late

    In the past 50 years, Earth’s oceans have been depleted and acidified to alarming degrees. Sylvia Earle, a longtime marine scientist, explains her plan to save at least a small part of them — along with our planet.

    Interview Conducted by Philip Bethge

    The swarm of jack mackerel looks like a silver wall in front of the divers. Bright sunlight breaks through the water surface and makes the fishes’ scales shimmer like an artfully forged mirror. As if following an invisible sign, the animals abruptly turn and fly up before quickly returning, as one undulating mass.

    Sylvia Earle, 80, glides slowly past the bodies, an underwater camera in her hand. The photo yield has been plentiful today, on the reef at Cabo Pulmo, a small coastal town on the southern end of Mexico’s Baja California peninsula. The tiny village on the Sea of Cortez had once been a normal fishing village. The reef provided a decent income for a handful of families, but then the wealth of fish spread by word of mouth.

    First came the recreational fishermen, then the trawlers with their longlines and nets. By 1980, the reef had been fished bare. After pressure from locals, Cabo Pulmo was declared a national park. Since then, fishing has been banned here. In the last three decades, the biomass of fish has more than quadrupled. And the people are earning good money from ecotourism.

    That’s why Earle has selected Cabo Pulmo as a “Hope Spot.” She has identified about 200 of these kinds of locations through her foundation, Mission Blue. Together with the International Union for the Conservation of Nature (IUCN), she is working on a global action plan for marine reserves. In an interview, she explains why the ocean is so important for life on earth. ….

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  • Die Wal-Kämpfer

    Paul Watson, Gründer der Meeresschutzorganisation Sea Shepherd, hat die Selbstjustiz auf den Ozeanen salonfähig gemacht. Mit rabiaten Methoden versuchen seine Ökopiraten, das Leben von Walen, Robben und Haien zu retten.

    Von Philip Bethge

    Wie geht das, einen Wal zu töten, tonnenschwer und sechs Meter lang, der im seichten Wasser liegt? Eine Handbreit hinter dem Blasloch muss die Lanze angesetzt werden. Ein kräftiger Druck, und wie durch Butter gleitet die blattförmige Schneide durch den Walspeck, dringt in die Wirbelsäule ein und durchtrennt das Rückenmark.

    Nur Sekunden dauert es, dann ist der Grindwal tot. So soll es eigentlich sein beim “Grindadráp”, der traditionellen Waljagd auf den Färöern. Doch dem Hamburger Studenten Nico Flathmann, 21, bot sich ein anderer Anblick.

    “Hier lagen die Wale und haben um ihr Leben gekämpft”, erzählt Flathmann und deutet auf den Steinstrand hinter sich, “das Wasser war blutrot.” Minutenlang hätten die Tiere gelitten, weil die Männer die Lanze falsch angesetzt oder “im Blutrausch” gleich zum Messer gegriffen hätten.

    Flathmann hat ein Video von der Waljagd am Hvannasund gemacht, einer Bucht im Norden des Färöer-Archipels. Männer rennen in dem Film ins Wasser und schlagen große Stahlhaken in die Blaslöcher der zuvor von Booten zusammengetriebenen Grindwale. Aus zuckenden Leibern spritzt Blut in die Höhe. Vom Ufer aus verfolgen Schaulustige das Spektakel. “Sie lachten, und es waren sogar Kinder dabei”, sagt Flathmann, “es ist erschreckend, wie viel Spaß die Leute an dem Gemetzel haben.”

    –> Originaltext auf Spiegel.de

    Flathmann ist für die Organisation Sea Shepherd im Einsatz, um den Walfängern der Färöer das Handwerk zu legen. Am vorigen Montag wurden zwei der Aktivisten von der örtlichen Polizei festgenommen, weil sie eine Waljagd behindert haben sollen. Mit zwei Schiffen und einem Team an Land sind die Meeresschützer derzeit vor Ort. Es ist die aktuelle Kampagne einer einzigartigen Umweltguerilla.

    Sea-Shepherd-Aktivisten kappen die Netze illegaler Fischer im Südpolarmeer und stellen sich Robbenschlächtern in Schottland und Finnland in den Weg. Vor Australien, Südafrika und Brasilien zerstören sie Köderleinen für Haie oder bewachen Meeresschildkröten. Mit ihren Booten fahren sie Walfängern vor den Bug, bis Stahl auf Stahl kracht . Im Hafen sprengten die Aktivisten sogar Löcher in die Rümpfe der verhassten Jagdschiffe.

    Kritiker werfen den Tierschützern “Ökoterrorismus” vor. Für ihre Anhänger jedoch sind sie die letzten großen Helden einer Umweltbewegung, die in den Siebzigerjahren mit der Gründung von Greenpeace begann und heute fast untergegangen erscheint – gäbe es da nicht “Neptuns Navy”, wie sich die Ozeanhirten nennen .

    “Wir sind eine globale Bewegung”, sagt Paul Watson, der Gründer der Organisation. Er will die Ozeane schützen, falls nötig mit Gewalt. Als Logo hat er einen Totenkopf gewählt. Dreizack und Hirtenstab kreuzen sich darunter, “Symbole für Aggressivität und Schutz”, wie Watson sagt. “Wir protestieren nicht, wir intervenieren; nur protestieren ist was für Feiglinge.”

    Für solche Sprüche lieben ihn seine Fans. Und Watson ist erfolgreicher als je zuvor. Aus einer kleinen Ökokämpfertruppe hat er eine weltweit operierende Organisation geformt. In 40 Ländern ist Sea Shepherd inzwischen aktiv. Der US-Fernsehsender Discovery Channel produziert die Serie “Whale Wars”, die Sea Shepherds Kampf gegen die japanische Walfangflotte begleitet. Das Spendenaufkommen der Organisation hat sich seit 2008 auf jährlich etwa zwölf Millionen Dollar vervierfacht.

    Acht Schiffe gehören zur Flotte der Ökopiraten. Im Januar erhielt die Organisation 8,3 Millionen Euro von einer niederländischen Wohltätigkeitslotterie. Erstmals will Watson nun ein Schiff nach eigenen Plänen bauen lassen. Seinen Crews aus Freiwilligen bietet er kaum Geld, dafür jedoch Ruhm und Abenteuer und das gute Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.

    Auch für Prominente hat Watson ein Händchen. “Uns unterstützen Captain Kirk, Batman, McGyver und zwei James Bonds”, schmunzelt er: Die Schauspieler William Shatner, Christian Bale, Richard Anderson, Sean Connery und Pierce Brosnan konnte er gewinnen. Letzter Neuzugang im Sea-Shepherd-Beirat ist die “Baywatch”-Blondine Pamela Anderson.

    “Mich überrascht der Erfolg von Sea Shepherd nicht”, sagt Rex Weyler, ein ehemaliger Greenpeace-Vordenker und Wegbegleiter Watsons. “Viele Menschen sind verzweifelt, wenn sie sehen, was mit der Welt geschieht; sie bekommen Angst und wollen schnelle Lösungen und jemanden, der handelt.”

    Das Treffen mit Watson findet in einem Hotel in der Rue Boulard im Pariser Stadtteil Montparnasse statt. Watsons Brustkorb ist trotz seiner 64 Jahre immer noch breit wie ein Fass, sein Gesicht zerknautscht wie ein ungemachtes Bett. Begleitet wird er von seiner vierten Frau, der 30 Jahre jüngeren, russischen Tierrechtsaktivistin Yana Rusinovich. In Watsons Redeschwall reiht sich bald eine Räuberpistole an die nächste. Mit weißem Bart und zerzaustem Haupthaar wirkt er wie ein Seebär, der sich in die Großstadt verirrt hat.

    Watson wuchs in St. Andrews auf, einem Küstenort im Osten Kanadas. Schon in jungen Jahren arbeitete er für die kanadische Küstenwache und heuerte als Seemann auf Handelsschiffen an. Seine Aktivistenkarriere begann mit 19, als er gegen Atomwaffentests in Alaska demonstrierte. Aus der damaligen Protestbewegung ging Greenpeace hervor.

    Doch in der jungen Regenbogenkriegertruppe konnte sich der streitbare Kanadier nicht lange halten. “Er war zu machtbesessen, zu unerbittlich darin, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen und alle anderen beiseitezudrängen”, erinnerte sich Robert Hunter, einer der Greenpeace-Gründer. Vor allem mit dem späteren Chef von Greenpeace Kanada, Patrick Moore, geriet Watson aneinander. Laut Watson eskalierte der Streit im Eis von Labrador.

    “Ich leitete die Kampagne gegen das Abschlachten der Robben, und wir hatten Brigitte Bardot als Unterstützerin gewonnen”, so erzählt es Watson. Ein Hubschrauber habe bereitgestanden, um die Bardot zu den Eisfeldern zu fliegen. “Patrick verlangte mitzufliegen, ich lehnte ab: ,Patrick, du bist kein Fotograf, kein Kameramann, ich brauche dich dort nicht.’” Seine angebliche Antwort: “Lass es mich so sagen: Ich fliege in diesem Hubschrauber; und wenn ich Präsident werde, setze ich dich vor die Tür.”

    Kurz darauf wurde Moore tatsächlich Chef – und Watson musste gehen. Aber nicht nur, weil er den Hahnenkampf zweier Alphamänner verloren hatte. “Paul definierte Gewaltlosigkeit neu”, sagt Weyler. “Gandhi war ihm nicht genug; er fand es in Ordnung, Eigentum zu zerstören, auch wenn er damit gegen Gesetze verstieß.” Das aber widersprach dem gewaltfreien Greenpeace-Ethos – eine Zerreißprobe für die junge Organisation.

    Für Watson war der Rauswurf am Ende ein Glücksfall. Erst auf sich allein gestellt, konnte er seinen Aufstieg zum Fidel Castro des Meeresschutzes starten.

    Seinen ersten Walfänger rammte Watson 1978. Kurz darauf gründete er Sea Shepherd und machte fortan mit Aktionen gegen sowjetische Walfänger und kanadische Robbenschlächter von sich reden. Die Selbstjustiz auf See begründete Watson bald nicht mehr nur moralisch, sondern auch juristisch. Er beruft sich auf die World Charter for Nature der Vereinten Nationen. Dort heißt es, dass nicht nur Staaten, sondern auch “internationale Organisationen, Individuen” und “Gruppen” Umweltrecht “implementieren” und die Natur “jenseits nationaler Jurisdiktion”, also beispielsweise auf hoher See, schützen sollen .

    “Wir müssten nicht tun, was wir tun, wenn die Regierungen der Welt die Gesetze durchsetzen würden, die sie unterzeichnet haben”, sagt er. “Aggressive Gewaltlosigkeit” nennt er seine Strategie. “Wir zerstören Eigentum, das zum Töten benutzt wird; aber wir haben nie Menschen verletzt und würden dies auch nie tun.”

    Sea-Shepherd-Aktivisten werfen mit Beuteln voller stinkender Buttersäure nach den verhassten Walfängern. Sie versuchen, die Schiffsschrauben ihrer Gegner mit Stahlkabeln zu blockieren. Sie kappen Schleppnetze und zerstören Harpunen.

    Dass dabei noch niemand ernsthaft zu Schaden gekommen ist, grenzt an ein Wunder. Greenpeace zumindest hält Watsons Weg nach wie vor für falsch, moralisch wie taktisch. Wenn es einen Weg gebe, die Japaner im Walfang zu bestärken, dann sei es, “Gewalt gegen ihre Flotte” anzuwenden, so Greenpeace: “Es ist falsch, weil es Menschenleben in Gefahr bringt und die Walfänger nur stärker macht .”

    Watson ficht das nicht an. Und der Erfolg scheint ihm recht zu geben. “Unsere Mandanten sind Wale, Haie, Robben und Fische”, sagt er. Ob er das Richtige tut, misst sich für ihn einzig an der Zahl geretteter Meerestiere. 6000 Wale will Watson allein im Südpolarmeer seit 2002 vor der Harpune bewahrt haben, weil seine Schiffe die Japaner Jahr für Jahr daran hinderten, ihre für angebliche wissenschaftliche Zwecke notwendige Fangquote auszuschöpfen. Inzwischen hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag den Wissenschaftswalfang der Japaner verboten.

    Spektakulär endete eine Sea-Shepherd-Operation im Mai, als vor Westafrika der Fischtrawler “Thunder” gurgelnd im Atlantik versank. 110 Tage lang hatten Sea-Shepherd-Boote den Trawler verfolgt. Die Aktivisten sagen, der Kapitän habe die “Thunder” am Ende absichtlich versenkt, um Beweise zu beseitigen. Der Trawler soll auf illegalem Fischzug nach wertvollem Antarktisdorsch gewesen sein.

    Die Jagd auf den Raubfischer begann bereits im Dezember vor der Küste der Antarktis. 72 Kilometer illegal ausgelegte Netze bargen die Aktivisten in den Folgewochen. Ein Fang im Wert von rund drei Millionen Dollar soll der “Thunder” entgangen sein. Schließlich soll der Kapitän entnervt aufgegeben und die Seeventile geöffnet haben. Die Sea-Shepherd-Aktivisten nahmen die Schiffbrüchigen an Bord und übergaben sie den Behörden .

    Einen ähnlichen Erfolg erhoffen sich die Sea-Shepherd-Leute nun auch auf den Färöern. Dort allerdings haben sie ein ganzes Volk gegen sich. Gut gegen Böse – Sea Shepherd bietet einfache Lösungen in einer komplizierten Welt. Schwierig wird es, wenn die Rollen nicht so klar verteilt sind.

    Der “Grindadráp” ist eine uralte Tradition . Schon die Wikinger sollen auf den Färöern Wale gefangen haben. Offizielle Aufzeichnungen der Jagd gibt es seit 1584. Rund tausend Grindwale töten die Einheimischen jedes Jahr – bei einer geschätzten Gesamtpopulation von über 700 000 Tieren. Einsehen mag auf den Inseln daher kaum jemand, warum die Jagd plötzlich aufhören sollte.

    “Der Grind ist Teil unserer Lebensart, wie das Fischen und die Schafzucht”, sagt Hendrik Akurstein, 31. Der angehende Umweltingenieur war dabei, als Anfang Mai die Grindwale in den Hvannasund getrieben wurden. Sein Holzhaus steht kaum 200 Meter von jenem Strand entfernt, an dem die Tiere verendeten. Mit seinem kleinen Motorboot half er dabei, die Meeressäuger in die Falle zu treiben. Damit war ihm ein Anteil an der Beute sicher.

    Akurstein geht hinüber in seine Garage und öffnet die Tiefkühltruhe. Neben Hühnchen und Steaks lagern dort Plastiktüten mit tiefrotem Walfleisch. “Daraus schneide ich Steaks für meine Familie”, sagt er. Auch getrocknet sei das Fleisch eine Delikatesse. Oder der Walspeck: In einer grünen Tonne sind die mehrere Zentimeter dicken, weiß glänzenden Fettstücke in Salz eingelegt.

    Einmal im Monat gibt es bei Akurstein, seiner Frau Hallgerð und ihrem drei Monate alten Baby Walfleisch zu essen. Mehr bitte nicht, empfehlen Gesundheitsexperten. Das Fleisch ist mit PCB, Dioxinen und Schwermetallen belastet .

    Ist der seltene, vergiftete Genuss wirklich das Gemetzel wert? Die Färinger sind davon überzeugt. So wichtig ist ihnen der “Grind”, dass das Parlament in der Hauptstadt Torshavn im Mai sogar ein neues Gesetz zum Schutz der Waljagd verabschiedete . Den am vorigen Montag festgenommenen Sea-Shepherd-Aktivisten drohen bis zu zwei Jahre Gefängnis.

    “Dieses Gesetz wurde extra für uns geschrieben”, schimpft Lockhart MacLean, 35, Kapitän des Sea-Shepherd-Schiffs “Sam Simon”. Strafbar ist nun bereits, wer in Verdacht gerät, gegen die Waljagd vorgehen zu wollen. “Damit sind wir gemeint”, sagt MacLean und lächelt gequält.

    Anfang Juli ist der Kapitän mit der 56 Meter langen “Sam Simon” auf den Färöern angekommen. Ein weiteres Sea-Shepherd-Schiff, die “Brigitte Bardot”, kreuzt ebenfalls in den Gewässern. MacLean hat etwa 30 Crewmitglieder an Bord. Ein bunter Haufen Freiwilliger aus aller Welt: Ashkr Audet, 20, aus Melbourne, gerade erst mit der Schule fertig, hilft auf der Brücke aus. Sven Höreth, 32, ein deutscher Kfz-Mechaniker, arbeitet an der 1800-PS-Maschine des Schiffs; Giacomo Giorgi, 34, ehemaliger Sänger einer Heavy-Metal-Band, ist Bootsmann und steuert eines der zwei schnellen Schlauchboote, die auf dem Achterdeck bereitstehen.

    Auf einem Sea-Shepherd-Schiff geht es zu wie in einer Jugendherberge für Weltverbesserer. Das Essen ist vegan, die Stimmung gut. Hier auf den Färöern allerdings suchen die Aktivisten noch nach der richtigen Strategie. “Im Moment ist es uns erst mal wichtig, Präsenz zu zeigen, um die Färinger nervös zu machen”, sagt MacLean. Auf einer Seekarte hat er die “Killing Beaches” der Einheimischen mit rosa Klebepunkten markiert, 18 an der Zahl. Dort ist die Grindwaljagd offiziell erlaubt.

    Mit dem Finger fährt der Frankokanadier auf der Karte den für diesen Tag geplanten Kurs ab. Dann blickt er hinaus auf das bleierne Meer und die Inseln, die jetzt im Sommer wie mit grünem Samt überzogen wirken. Die See ist heute ruhig, die dunklen Wolken liegen tief, “ein gefährlicher Tag für Wale”, sagt MacLean. Genau an solchen Tagen lassen sich die Tiere gut sichten und an die Strände treiben.

    Wenig später lassen die Aktivisten ihre Schlauchboote zu Wasser, um in den Buchten zu patrouillieren. Kündigt sich eine Waljagd an, tauchen allerdings sofort Polizeiboote auf. Die Färinger haben eine Bannmeile eingerichtet. Sogar zwei Fregatten der dänischen Marine folgen den Sea-Shepherd-Schiffen rund um die Uhr.

    “Mit dänischer Hilfe wird hier ein Gesetz durchgesetzt, dass das Abschlachten von Walen schützt”, sagt MacLean. Die Grindwaljagd verstoße nicht nur gegen EU-Recht, sondern auch gegen das Übereinkommen zur Erhaltung wandernder Tierarten. Optimistisch ist MacLean trotzdem: “Früher oder später wird es auch hier keinen Walfang mehr geben, die Färinger haben es nur schwer, das zu schlucken.”

    “Man gewinnt diese Dinge nicht über Nacht”, sagt Paul Watson bei dem Treffen in Paris. Der Sea-Shepherd-Gründer hat gelernt, mit Rückschlägen fertig zu werden. Auf den Färöern etwa kann er nicht selbst dabei sein, weil er aktuell auf einer Fahndungsliste von Interpol steht. Costa Rica und Japan fordern seine Auslieferung.

    In Costa Rica soll er im April 2002 sechs Haifischflossenjäger in Lebensgefahr gebracht haben, als er deren Boot attackierte. Die Japaner machen ihn für das Entern eines ihrer Walfangschiffe vor fünf Jahren in der Antarktis verantwortlich. Deutsche Bundespolizisten nahmen die Interpol-Notiz im Mai 2012 ernst und verhafteten Watson am Frankfurter Flughafen. Doch der Tierschützer kam auf Kaution frei – und floh. Monatelang verschwand er von der

    Bildfläche, “im Südpazifik, auf verlassenen Inseln”. Inzwischen versucht er, die Sache juristisch zu klären. In Frankreich genießt er eine Art Asyl. Das Land hat ihm zugesichert, die Interpol-Fahndung vorläufig zu ignorieren. Auch in die USA darf Watson reisen.

    “Die Vorwürfe sind politisch motiviert”, wettert der Tierschützer. Um Sea Shepherd nicht zu schaden, hat er kürzlich trotzdem alle Ämter niedergelegt. Darin sieht er sogar einen Vorteil. Die zuvor zentral gelenkte Organisation sei nun in viele einzelne Ländergruppen aufgegangen. “Das macht uns flexibler.”

    Außerdem hat Watson Sea Shepherd Legal ins Leben gerufen. Künftig will er seine Gefechte nicht nur auf See, sondern auch im Gerichtssaal führen.

    “Sie haben geglaubt, dass sie uns ausschalten könnten”, sagt Watson, “stattdessen sind wir stärker als je zuvor.”

    Und welche Rolle ihm künftig zufalle bei Sea Shepherd? Watson zögert keine Sekunde: “Ich bin der Admiral.”

    Mail: philip_bethge@spiegel.de , Twitter: @philipbethge

    –> Originaltext auf Spiegel.de

  • Totgespritzt

    Es steckt im Tierfutter, im Brot, in der Milch: Das Pestizid Glyphosat belastet seit Jahrzehnten die Umwelt, weltweit. Forscher warnen vor Missbildungen und Krebs. Wie gefährlich ist der Stoff wirklich?

    Von Philip Bethge – DER SPIEGEL 24/2015

    Das Unheil kam langsam über den Hof von Helge Voss. Zuerst gaben die Kühe weniger Milch, ihr Kot war mal dick, mal dünn, obwohl sie stets das gleiche Futter fraßen. Dann kamen die ersten Tiere nicht mehr hoch – als wären die Hinterläufe gelähmt. Einige Kühe blieben nach der Niederkunft einfach liegen und starben im Stroh.

    “Ich hatte Tiere, die haben auf keine Behandlung mehr angesprochen”, sagt Voss, Milchbauer in Kaaks, einem Dorf in Schleswig-Holstein. So etwas hatte es noch nicht gegeben auf dem Hof seiner Familie, nicht beim Vater und nicht beim Großvater, die beide auch schon vom Vieh lebten.

    “So eine Kuh muss glänzend aussehen, Fleisch auf den Rippen haben, und wenn ich die auf die Weide lasse, muss sie auch mal rennen wollen”, sagt Voss, 42. Doch nun, plötzlich, nur noch Hungerhaken im Stall, “zu dünn, zu langsam, zu stumpf das Fell”. Erst mal suche man die Schuld bei sich, dann sei er aber doch zum Tierarzt gegangen, “und der hat gleich auf Glyphosat getippt”.

    In deutschen Kuhställen geht eine mysteriöse Krankheit um. Manche Veterinärämter halten das Leiden für ein Hirngespinst paranoider Bauern. Einige Tierärzte dagegen sprechen von “chronischem Botulismus” und warnen vor einer Epidemie.

    Wenn sie über die Gründe für die schleichende Vergiftung sprechen, taucht immer wieder ein Wort auf: Glyphosat.

    –> Originaltext auf Spiegel.de

    Glyphosat ist das weltweit meistversprühte Herbizid; seit 40 Jahren ist es in Gebrauch und daher fast überall zu finden: im Urin von Mensch und Tier, in der Milch, im Tierfutter, in Organen von Schweinen und Kühen, in Hasen und Fasanen, im Wasser.

    Seit 2001 ist der Einsatz von Glyphosat in den EU-Ländern möglich. Ende des Jahres nun läuft die Zulassung aus. Die European Food Safety Authority (EFSA) wird Anfang August eine Empfehlung aussprechen, ob der Stoff für weitere zehn Jahre zugelassen werden kann. Gut möglich, dass zu diesem Anlass ein seit Jahren schwelender Streit eskaliert: darüber, wie gefährlich Glyphosat für Mensch, Tier und Umwelt ist.

    Auf der einen Seite steht die Agrarindustrie mit einer mächtigen Lobby, die seit Jahrzehnten die Unbedenklichkeit des Stoffes für Mensch und Tier beschwört. Auch das Bundesamt für Risikobewertung (BfR), das in der EU für die wissenschaftliche Einschätzung der Chemikalie zuständig ist, hält Glyphosat für weitgehend ungefährlich . Gerade hat das Amt einen 2000 Seiten starken Bericht an die EFSA verschickt. Darin setzen die BfR-Autoren die “akzeptable Tagesaufnahme” für den Menschen sogar um zwei Drittel herauf.

     

     

    Auf der anderen Seite kämpfen Umweltverbände und Ökoaktivisten, aber auch immer mehr unabhängige Wissenschaftler. Sie glauben, dass Glyphosat Missbildungen bei Säugetieren hervorrufen kann, Niere und Leber schädigt und Unfruchtbarkeit oder Krebs begünstigt. Ein Warnruf von höchster Warte schürt die Sorgen: Die International Agency for Research on Cancer (IARC), eine Vereinigung unter dem Dach der Weltgesundheitsorganisation, hat Glyphosat Anfang März als “wahrscheinlich krebserregend für den Menschen” eingestuft.

    Ist Glyphosat also harmlos genug zum Trinken, wie es manche Industrielobbyisten predigen? Oder ist es das DDT des 21. Jahrhunderts, hochgiftig und im Begriff, die gesamte Nahrungskette zu verseuchen?

    Wer sich um Klärung bemüht, bekommt es mit verschwiegenen Firmen zu tun, die Forschungsergebnisse als Betriebsgeheimnisse deklarieren. Kritische Studien werden schlechtgemacht, Wissenschaftler unter Druck gesetzt.

    “Die Industrie tut alles, um missliebige Forscher zu diskreditieren”, sagt der französische Toxikologe Gilles-Éric Séralini, einer der schärfsten Glyphosat-Kritiker. Séralini glaubt, dass die Zulassungsbehörden der Industrie seit Jahren in die Hände spielen, auch deshalb, weil sie Glyphosat nur isoliert auf Giftigkeit prüfen; nur den Wirkstoff an sich also – nicht aber die tatsächlich versprühten Mixturen. Séralinis Forderung: “Glyphosathaltige Pestizide sollten sofort verboten werden.”

    Glyphosat wurde erstmals 1950 in der Schweiz synthetisiert. Seit 1996 kommt es massiv zum Einsatz, vor allem zusammen mit gentechnisch veränderten Nutzpflanzen, denen die Chemikalie nichts anhaben kann. Die Kombination galt lange als ökologisch unbedenklich und äußerst wirkungsvoll: Glyphosat hemmt das Enzym eines für Pflanzen essenziellen Stoffwechselwegs. Gentech-Getreide wie etwa die Roundup-Ready-Sorten des Agrarriesen Monsanto widerstehen dem Killer. Wer also Glyphosat gegen Unkraut spritzt und gleichzeitig die Gentech-Saat verwendet, darf auf reiche Ernten hoffen.

    Jahrelang ging das gut. Doch die Bauern müssen immer größere Mengen des Pestizids auf die Felder sprühen, weil viele Unkräuter resistent geworden sind. Über 700 000 Tonnen des Stoffs produzieren Firmen wie Monsanto, Syngenta oder Bayer Crop Science inzwischen im Jahr. In Deutschland sind derzeit 94 glyphosathaltige Unkrautvernichter unter Namen wie Roundup, Glyfos oder Permaclean zugelassen.

    Gartenfreunde sprühen die Mittel in die Fugen zwischen den Terrassenplatten. Die Bahn hält damit ihre Gleisanlagen kahl. Deutsche Bauern wiederum machen mit den Pestiziden Tabula rasa, um Felder für die neue Aussaat vorzubereiten. Oder sie nutzen die Mittel für die sogenannte Sikkation : Raps, Kartoffeln oder Weizen werden kurz vor der Reife gleichsam totgespritzt, weil sie dann leichter zu ernten sind. Diese Technik erhöht die Pestizidrückstände in den Feldfrüchten. Für die EU kein Problem: Sie hat den Glyphosat-Grenzwert für Brot- und Futtergetreide einfach erhöht.

    Die größten Glyphosat-Mengen indes stecken in importierten Futterpflanzen. Als Tierfutter sind Gentech-Mais und -Soja etwa aus Argentinien oder den USA seit 1996 in der EU zugelassen. Das eiweißreiche Getreide ist billiger als Kraftfutter aus Europa und landet direkt in den Trögen jener Kühe und Schweine, deren Milch oder Fleisch in hiesigen Supermärkten angeboten werden.

    Doch was macht die Glyphosat-Flut mit der Umwelt? Schon lange steht das Mittel im Ruf, die Böden auszulaugen. Genpflanzen überleben die Behandlung zwar, werden aber anfälliger für Krankheiten, bleichen aus oder fallen Pilzen zum Opfer. Nun mehren sich die Anzeichen, dass Glyphosat auch Tier und Mensch schaden könnte.

    Ib Borup Pedersen, Schweinezüchter aus dem dänischen Spentrup, fütterte seine Schweine jahrelang mit Gentech-Soja. Irgendwann wurde er misstrauisch. “Jede Sojalieferung führte zu neuen Gesundheitsproblemen”, erzählt der Landwirt. Durchfall, Magengeschwüre und Blähungen plagten Pedersens 450 Sauen. Testweise ließ er das Gentech-Soja weg. “Die Tierarztkosten fielen um zwei Drittel”, erinnert sich Pedersen, “die Sauen wurden ruhiger und produzierten mehr Milch.”

    Nun wollte es der Schweinezüchter aus Jütland genau wissen. Fortan führte er Buch über die Herkunft des Schweinefutters und die Erkrankungen seiner Tiere. “Zwei Jahre und 32 000 Schweine später” hatte Pedersen “deprimierende Gewissheit”. Glyphosat im Futter, so zeigten seine Notizen, verschlechterte nicht nur den Allgemeinzustand der Sauen. Es häuften sich auch Fälle von Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten und Missbildungen an Schädel, Wirbelsäule und Beinen.

    Pedersen hat die Horrorshow sorgfältig dokumentiert: Seine Fotos zeigen Ferkel mit nur einem Auge oder ohne Anus, Tiere mit deformierten Ohren, Schnauzen und Zungen, mit klaffenden Löchern im Schädel oder verkrümmten Beinen. Einige der Tiere ließ Pedersen ärztlich untersuchen. Überall im Körper fanden sich Glyphosat-Rückstände, vor allem in Lunge und Herz.

    “Ohne Zweifel ist Roundup der Grund für meine Probleme”, folgert der Züchter. Und er ist sich sicher, dass seine Erfahrungen keine Ausnahme sind.

    Auch in Pedersens Urin fand sich Glyphosat. “Das macht mir besonders Sorgen, weil ich mein Essen ganz normal hier bei uns im Supermarkt einkaufe”, sagt er.

    Pedersens Studie hat wissenschaftlich keinerlei Aussagekraft, weil sie anekdotisch ist, nicht systematisch. Und doch bestätigen seine Notizen, was Publikationen in Fachjournalen zeigen. Im Tierexperiment entwickelten Krallenfrosch- und Hühnerembryonen Missbildungen durch Glyphosat. Rattenembryonen, die mit verdünntem Roundup geduscht wurden, erlitten Skelettschäden.

    Das Pestizid galt lange als unbedenklich, weil es auf ein Enzym zielt, das allein in Pflanzen wirkt. Aufruhr im Säugetierkörper richtet der Stoff aber wohl dennoch an. Er ist nah mit der Aminosäure Glycin verwandt und kann deren Platz im Stoffwechsel einnehmen.

    Forscher berichten, dass Glyphosat nerventoxisch wirken und das Hormonsystem durcheinanderbringen könne. Bei Embryonen stört der Stoff möglicherweise den Retinsäure-Stoffwechsel, der eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung spielt.

    Auch einen immens wichtigen Enzymkomplex könnte er beeinflussen: den biochemischen Werkzeugkasten zur Entgiftung des Körpers. Ständig bombardieren toxische Substanzen aus der Nahrung Mensch und Tier. Enzyme bauen diese Stoffe in Leber und Niere ab. Normalerweise. Glyphosat könnte diesen Mechanismus hemmen. Ohne gut laufende Entgiftung jedoch wird der Körper zur Sondermüllhalde.

    Einer, der es genau wissen will, ist der Franzose Séralini. Seine Arbeitsgruppe im normannischen Caen erforscht seit Jahren die Wirkung von Glyphosat. Séralini badete menschliche Embryonal- und Plazentazellen in Roundup-Lösungen und protokollierte die vernichtende Wirkung der Chemikalie. Zum Erzfeind der Industrie wurde der Forscher aber erst, nachdem er Versuchsratten über zwei Jahre Roundup ins Trinkwasser geträufelt oder sie mit Gentech-Mais gefüttert hatte.

    Séralini untersuchte insgesamt 200 Ratten, analysierte Blut, Kot, Urin und Organe. Was er fand, beschreibt der Toxikologe als “alarmierend”. Nieren- und Leberschäden waren zu verzeichnen, die Weibchen entwickelten überdurchschnittlich häufig Brustkrebs. Die Hirnanhangdrüse war bei vielen Tieren vergrößert, der Stoffwechsel verändert.

    Im September 2012 veröffentlichte das Fachblatt “Food and Chemical Toxicology” die Studie. Danach brach in Séralinis Leben die Hölle los. “Innerhalb der ersten 24 Stunden protestierten über hundert Forscher gegen unser Paper”, erzählt er, “dann schlossen sich die Behörden, die Glyphosat zugelassen hatten, dem Widerstand an.”

    Séralini wurden “Falschaussagen” vorgeworfen, “Verwendung von Tieren für Propagandazwecke”, “Munitionierung für Extremisten”. Wenn sich der Forscher daran erinnert, in seinem kleinen, schmucklosen Büro in einem Seitentrakt der Université de Caen, klingt er verbittert. Der energische Toxikologe fühlt sich als Opfer einer Schmutzkampagne.

    “Es gab enormen Druck vonseiten der Industrie”, sagt Séralini. Mit Erfolg: Im November 2013 zog “Food and Chemical Toxicology” Séralinis Veröffentlichung zurück . Zufall oder nicht – ein halbes Jahr zuvor hatte das Fachmagazin den US-Ernährungswissenschaftler Richard Goodman in seinen redaktionellen Beirat berufen, einen ehemaligen Monsanto-Mitarbeiter.

    Der Streit um Séralinis Arbeit ist typisch für die Glyphosat-Debatte. Kritische Studien werden zunächst fachlich angezweifelt. Dann wird’s persönlich. Im Fall der französischen Rattenstudie bemängeln Kritiker , dass der Forscher die falschen Labor-

    ratten und vor allem zu wenig Tiere verwendet habe, um signifikante Aussagen machen zu können. Séralini hält dagegen. Inzwischen hat ein anderes Fachblatt die Studie neu publiziert. Die Reputation des Franzosen ist dennoch beschädigt.

    Bei der aktuellen Krebsstudie der IARC wiederholt sich das Muster. Die Experten sortierten Glyphosat in die “Kategorie 2A” ein, “wahrscheinlich krebserregend für den Menschen”. Sie berufen sich vor allem auf drei Studien aus den USA, Kanada und Schweden, die nahelegen, dass die Chemikalie das Risiko erhöht, an Lymphdrüsenkrebs zu erkranken. Außerdem gebe es “überzeugende Hinweise”, dass Glyphosat Krebs bei Labortieren und Erbgutschäden bei menschlichen Zellen hervorrufe, berichtet der IARC-Epidemiologe Kurt Straif.

    Straif und 16 weitere Experten von Weltruf haben an der IARC-Einschätzung mitgearbeitet. Ein Jahr lang diskutierten die Wissenschaftler, bevor sie im März ihr Urteil fällten. Die Ergebnisse publizierten sie im angesehenen Fachblatt “Lancet Oncology”. Die Pestizidhersteller beeindruckt das wenig; umgehend zogen sie gegen die Forscher zu Felde.

    “Wir sind empört”, wetterte Robb Fraley , oberster Techniker von Monsanto. Die IARC-Einschätzung widerspreche “Jahrzehnten umfangreicher Sicherheitsforschung der führenden Regulierungsbehörden der Welt” und sei “ein klares Beispiel einer tendenziösen Agenda”. Monsanto-Chef Hugh Grant diffamierte die Arbeit gar als “junk science”, zu Deutsch: Drecksforschung.

    Die Firma aus St. Louis in den USA beharrt darauf, dass Glyphosat weder Krebs, Missbildungen oder Erbgutschäden auslöse, noch die Fruchtbarkeit beeinträchtige oder das Hormonsystem störe. “Alle ausgewiesenen Glyphosat-Anwendungen sind sicher für die menschliche Gesundheit”, sagt Fraley. Was der Konzern angeblich mit mehr als 800 Studien belegen kann.

    An einer davon hat der Toxikologe Helmut Greim mitgearbeitet. Der weißhaarige Experte, gerade 80 geworden, war jahrelang einer der führenden Toxikologen in Deutschland. Längst im Ruhestand, arbeitet er immer noch als Gutachter, seine Basis ist ein kleines Büro an der Technischen Universität München in Weihenstephan.

    Jüngst hatte Greim 14 Tierversuchsstudien auf dem Tisch, die den Zusammenhang zwischen Glyphosat und Krebs ergründen. “Es gab keine Hinweise auf einen kanzerogenen Effekt”, sagt der Forscher. Kein Wunder, findet er: “Es fehlt ein plausibler Mechanismus, wie Glyphosat Krebs auslösen könnte.”

    Seine Ergebnisse fasste Greim Anfang des Jahres in einem Fachmagazin zusammen. Zu den Koautoren gehört David Saltmiras – einer der Cheftoxikologen von Monsanto und Mitglied der “Glyphosate Task Force”, eines Lobbyverbands.

    Und das ist die zweite Strategie der Industrie: Unliebsame Studien werden mit eigenen Arbeiten gekontert, die oftmals das komplette Gegenteil zum Ergebnis haben. Greim räumt das ein: Seine Metastudie sei durchaus als Antwort auf die Untersuchung des Franzosen Séralini gedacht.

    Andere Studien wiederum halten die Pestizidhersteller mit dem Verweis auf “Betriebsgeheimnisse” sorgsam unter Verschluss. Werden kritische Ergebnisse verheimlicht? Anfang der Achtzigerjahre zum Beispiel gab Monsanto Fütterungsversuche mit Ratten in Auftrag, eigentlich um die US-amerikanische Environmental Protection Agency (EPA) von der Harmlosigkeit von Glyphosat zu überzeugen. EPA-Vermerke von damals legen jedoch nahe, dass die Industriestudie eine “große Zahl” pathologischer Veränderungen der Rattennieren feststellte, Veränderungen, die einen Krebsverdacht begründen können.

    Inzwischen stuft die EPA Glyphosat als praktisch ungiftig ein. Auch das BfR in Berlin sieht keinerlei Gesundheitsgefahren durch den Stoff. Sind die Behörden den Taktiken der Glyphosat-Lobby auf den Leim gegangen, wie Kritiker meinen?

    Das BfR weist den Vorwurf der Industrienähe vehement zurück. “Eigenständige Bewertungen” von “mehr als 1500 Publikationen” seien durchgeführt worden. Doch wie kann das sein? Wie ist es möglich, dass ausgewiesene Experten zu so unterschiedlichen Einschätzungen über ein und denselben Stoff kommen?

    Das BfR bietet eine Erklärung an. Die Unterschiede, heißt es dort, hätten ihren Ursprung “in einem anderen methodischen Ansatz”. Regulierungsbehörden beurteilen Umweltchemikalien nämlich vor allem nach deren direkter Wirkung auf Versuchstiere im Labor.

    Das geht so: Forscher träufeln Ratten reines Glyphosat in verschiedenen Konzentrationen ins Futter. Dann bestimmen sie jene Glyphosat-Menge, die den Ratten gerade eben noch keine Schäden zufügt. Gleichzeitig messen sie, in welcher Konzentration der Stoff tatsächlich in der Umwelt vorkommt. Liegen die beiden Werte weit auseinander, geben die Kontrolleure Entwarnung. Bei Glyphosat ist das so.

    Anders die sogenannte gefahrenbezogene Bewertung, die zum Beispiel zum Votum der IARC führte: Unabhängig von der Dosis untersuchen die Forscher dabei, ob der Stoff ganz prinzipiell gefährlich für Mensch und Tier ist. Zudem werten sie Studien zu den in der Umwelt real beobachteten Folgen des Glyphosat-Regens aus. Solche epidemiologischen Studien haben den Nachteil, dass die Versuchsbedingungen nicht gut zu kontrollieren sind. Dafür bilden sie besser die Wirklichkeit ab.

    Zudem mehren sich die Hinweise darauf, dass Glyphosat nicht allein, sondern erst im Mix zum Killer werden könnte. “Pestizide wie Roundup enthalten etwa 50 verschiedene Moleküle”, sagt Séralini. Von einer “Mischung stark korrosiver Stoffe aus der Ölindustrie” spricht der Forscher. Die aggressive Chemie ist zum Beispiel notwendig, um die Pflanzenwände aufzubrechen. Erst dann kann das Glyphosat eindringen und sein Vernichtungswerk verrichten.

    Rezepturen wie Roundup seien “bis zu tausendmal giftiger als Glyphosat allein”, sagt Séralini. Auch das BfR hat erkannt, dass der Mix eine wichtige Rolle spielt. Besonders giftige Beistoffe, die sogenannten Tallowamine, sind inzwischen zumindest in Deutschland verboten. Doch das Problem bleibt, findet Séralini – zumal die Giftigkeit des jeweiligen Potpourris überhaupt nicht getestet wird.

    Séralinis Arbeit ist die einzige Langzeitstudie weltweit, bei der Roundup verfüttert wurde. In allen anderen Fällen testeten die Forscher Glyphosat pur. Das jedoch sei “das falsche Produkt”, kritisiert Séralini, nämlich eines, “das auf dem Markt gar nicht existiert”.

    Ist der massive Einsatz glyphosathaltiger Pestizide also ein fahrlässiger, weltumspannender Feldversuch an Tier und Mensch? “DDT hat man früher auch als völlig untoxisch angesehen”, sagt Monika Krüger, emeritierte Veterinärmedizinerin, “dann hat man langsam gemerkt, dass da im Himmel keine Vögel mehr waren.” Die ehemalige Leiterin des Instituts für Bakteriologie und Mykologie der Universität Leipzig weiß zwar, dass der Vergleich nicht ganz stimmt – Glyphosat wird viel schneller abgebaut als das Insektengift DDT. Doch die Wissenschaftlerin will aufrütteln. Denn auch ihr gefällt nicht, was sie sieht.

    Krüger untersuchte die missgebildeten Ferkel des dänischen Bauern Pedersen. Sie entdeckte Glyphosat-Rückstände im Urin von Hochleistungskühen. Vor allem aber musste sie mehrfach zusehen, wie Bauern in Sachsen und Schleswig-Holstein einen Großteil ihrer Herde an den “chronischen Botulismus” verloren.

    “Die Lähmungen ziehen von hinten herauf nach vorn, können die Lunge erreichen”, erläutert die Professorin. Dann sacken die Kühe einfach zusammen, “abgemagert, mit aufgezogenem Bauch”.

    Das Gift von Bakterien des Typs Clostridium botulinum sei schuld an dem Leiden, sagt die 67-jährige Forscherin. Normalerweise fristen die Einzeller ein Hungerdasein im Verdauungstrakt. Andere Mikroorganismen halten sie in Schach. Bei erkrankten Kühen jedoch haben sie sich rasant ausgebreitet. Schleichend werden die Tiere von innen vergiftet.

    Warum kommt es zur Giftattacke? Krüger ist sich sicher: Das Glyphosat im Tierfutter ist schuld. Die Forscherin hat im Labor untersucht, wie Glyphosat auf die Mikroorganismen des Kuhpansens wirkt. “Ausgerechnet viele der nützlichen Organismen werden durch Glyphosat abgetötet”, erläutert sie. Dies störe die Pansenflora, die Botulismus-Clostridien könnten sich “massiv vermehren”.

    Ratten, deren Nieren anschwellen, missgebildete Ferkel, vergiftete Kühe, Menschen mit Lymphdrüsenkrebs – hängt all dies mit Glyphosat und Pestiziden wie Roundup zusammen? Der wissenschaftliche Streit könnte sich noch Jahre hinziehen. Ist es fahrlässig, solange einfach weiterzumachen wie bisher?

    Bauer Voss aus Dithmarschen jedenfalls will nicht mehr warten, bis sich die Forscher geeinigt haben. Er hat seine Konsequenzen gezogen.

    Voss verfüttert jetzt selbst angebaute Ackerbohnen und Raps an seine 75 Kühe. Glyphosathaltiges Sojaschrot aus Übersee mutet er ihnen nicht mehr zu. Seither gäben die Tiere wieder mehr Milch, sie seien fruchtbarer und gesünder.

    Bald will Voss seinen Hof ganz auf ökologische Landwirtschaft umstellen und Biomilch produzieren. “Diesen Irrsinn”, sagt er, “mache ich nicht mehr mit.”

    –> Originaltext auf Spiegel.de

  • Sie lebt

    Ein Spielfilm feiert Bernhard Grzimek als Naturschützer der ersten Stunde. Die Serengeti in Afrika war der Sehnsuchtsort des Zoodirektors, ihre Rettung war sein Lebenswerk. Was ist aus dem Vermächtnis des großen Tierliebhabers geworden?

    Von Philip Bethge – DER SPIEGEL 14/2015  VIDEO

    Khetho Ncube hat schon viele Könige aus dem Dickicht springen sehen. “Häufig sitzen die Löwen dort im Schilf und warten auf Tiere, die zum Wasser wollen”, sagt der Tansanier und zeigt hinüber zum Ufer des nahen Flüsschens. Seine Winchester, geladen mit Patronen vom Großwild-Kaliber .458, hält der bullige Wildführer dabei fest in der Linken.

    Beruhigend. Denn wer in der Serengeti spazieren geht, fühlt sich schnell wie Löwenfutter.

    “Immer in meiner Nähe bleiben”, hatte Ncube am Morgen gemahnt, als die Sonne langsam den Himmel über der blassgelben Savanne eroberte. Für den Ernstfall vereinbarte er Handzeichen: stopp, langsam zurück, hinhocken.

    Jetzt eilt der Wildführer voraus, hinter sich eine in Ehrfurcht verstummte Touristenschar. Ein junger Massai im königsblauen Gewand, den traditionellen Mkuki-Speer in der Hand, geht am Ende der Wandergruppe, wohl als Attraktion für die Gäste, vielleicht aber auch tatsächlich, um rechtzeitig vor Simba, Tembo und Chui zu warnen. So heißen Löwe, Elefant und Leopard in der Landessprache Kisuaheli.

    Ncube liest den Savannenboden wie eine Karte, findet den Kot von Hyänen, weiß vom Kalzium der Knochen ihrer Opfer, und Elefantendung voll spitzer Akaziendornen (“Niemals drüberfahren, sonst ist der Reifen platt”). Dann hebt er die Hand. Die Besucherkarawane kommt zum Stillstand. Vier Kaffernbüffel galoppieren unweit vorbei, muskulöse Fleischberge mit furchterregenden Hörnern.

    “Die gefährlichsten der großen Wildtiere”, flüstert Khetho Ncube, der für einen Reiseveranstalter arbeitet. “Die sollte man nicht überraschen.” Gereizte Elefanten würden erst mal eine Scheinattacke führen, Ohren nach vorn, wütend peitschender Rüssel, berichtet der Wildführer, “aber wenn ein Büffel angreift, ist man in Todesgefahr”.

    “Walking Safari” heißt das Abenteuer, an dem an diesem Tag zum Beispiel Pat Kurtiniatis und Mike Cramer teilnehmen, ein Rentnerpaar aus dem Orange County in Kalifornien. Die Reise stand bei ihnen auf jener Liste wichtiger Dinge, die sie noch tun wollten in ihrem Leben.

    Der Serengeti-Nationalpark in Tansania, etwa so groß wie Schleswig-Holstein, ist eines der letzten großen Wildnisgebiete der Erde, ein Sehnsuchtsort der Menschheit auf der Suche nach dem Natürlichen, Unberührten, Ursprünglichen. Kaum einer wusste das besser als Bernhard Grzimek , der langjährige Direktor des Frankfurter Zoos, der vor mehr als 55 Jahren mit seinem Sohn Michael in diese endlose Savanne kam und den Dokumentarfilm “Serengeti darf nicht sterben” drehte.

    Am kommenden Freitag zeigt die ARD einen neuen Spielfilm über Grzimek , den Deutschen, der nicht weniger vorhatte, als die Fauna Afrikas zu retten. In der Hauptrolle: Ulrich Tukur, der den Mann als visionären Tierschützer gibt, als sendungsbewussten Ökopionier – und großen Frauenhelden.

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    In modischem Einreiher, das Silberhaar sorgsam gescheitelt, plauderte Grzimek in seiner Fernsehsendung “Ein Platz für Tiere” weitgehend konzeptfrei über See-Elefanten und Trompeterschwäne, über doppelköpfige Nattern oder Paradiesvögel, während ihn ein passender tierischer Partner aus dem Frankfurter Zoo umspielte.

    Weltweite Berühmtheit verschaffte sich der Tierheger allerdings erst, als er nach Afrika aufbrach und mit “kreuzzüglerischem Pathos vor der Vernichtung der letzten frei lebenden Großwildherden Afrikas warnte”, wie der schrieb.

    Die britische Verwaltung des damaligen Tanganjika beabsichtigte, die Grenzen des Serengeti-Nationalparks neu zu ziehen, um dem Wunsch der Massai nach mehr Weideflächen zu genügen. Doch welche Grenzen sollten das sein? Grzimek und sein Sohn lernten fliegen, reisten mit einem zebragestreiften Kleinflugzeug nach Ostafrika und zählten mit der Sorgfalt preußischer Verwaltungsbeamter die in der Serengeti lebenden Gnus (99 481), Zebras (57 199) und Grant- sowie Thomson-Gazellen (194 654) , um deren Wanderwege zu bestimmen.

    Die Erlebnisse in der Savanne verarbeitete Grzimek zu dem Film “Serengeti darf nicht sterben”. Das Werk (Grzimek: “Nebenbei gedreht”) trug ihn auf den Gipfel seines Ruhms und wurde 1960 mit einem Oscar ausgezeichnet. Sohn Michael erlebte den Triumph nicht mehr: Er war im Januar 1959 noch während der Dreharbeiten mit der Dornier Do 27 des Duos abgestürzt.

    Der Vater verschrieb sich umso entschlossener der Aufgabe, die Serengeti zu bewahren. Als er 1987 starb und neben seinem Sohn am Rand des Ngorongoro-Kraters beerdigt wurde, war die Wildnis der Serengeti weltberühmt.

    Doch was ist aus Grzimeks Vermächtnis geworden? Wie steht es um die Serengeti, fast 30 Jahre nach dem Tod des zoologischen Dampfplauderers? Und, viel grundsätzlicher: Kann es auch in dieser immer dichter bevölkerten Welt gelingen, der Großfauna, also Elefanten, Nashörnern, Büffeln oder Löwen, ein dauerhaftes Überleben in freier Wildbahn zu garantieren?

    Antworten gibt es vor Ort, am besten direkt im Herzen des Nationalparks, in Seronera. Der Ort, kaum mehr als ein paar versprengte Häuser, ist Sitz der Parkverwaltung. Grzimek ist hier immer noch präsent. Als Pappkamerad steht er im Besucherzentrum neben dem ersten Staatspräsidenten Tansanias, Julius Nyerere.

    Grzimeks Statthalter vor Ort heißt Robert Muir, Afrikachef der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF) mit ihrem Gorilla-Logo. Der drahtige Brite empfängt auf der Veranda seines kleinen Wohnhauses, von der aus der Blick über die weite, mit Akazien und Buschwerk gesprenkelte Ebene geht. Unweit weiden Antilopen und Giraffen. Später wandern zwei Elefanten nur wenige Meter am Haus vorbei.

    “Grzimeks Arbeit war visionär”, sagt Muir, “er hat Nyerere überzeugt, die Parkgrenzen so zu legen, dass die Tiere ihren Wanderwegen folgen können.”

    Rund zwei Millionen Weißbartgnus, Zebras und Thomson-Gazellen ziehen im Jahresrhythmus durch die Serengeti und die angrenzenden Gebiete , fünfmal mehr als noch zu Grzimeks Zeiten. Über 26 000 Quadratkilometer erstreckt sich ihre Wanderung, von Tansania nach Kenia in das Massai-Mara-Schutzgebiet und zurück, durch die Flüsse Mara, Grumeti und Mbalageti, in denen die Krokodile lauern.

    Das Naturwunder der Serengeti, es existiere noch, sagt Muir. Doch der Druck wächst. Rund 170 000 Touristen aus aller Welt besuchen jährlich den Wildnispark. Geht es nach der tansanischen Nationalparkbehörde (Tanapa) , sollen es künftig jedoch noch mehr werden. Gleichzeitig kommen Wilderer in das Gebiet – auf blutiger Jagd nach Elfenbein und Nashorn.

    Und immer mehr Menschen leben um den Park herum. Rodung, Landwirtschaft, Viehherden und Wasserknappheit bedrohen das Ökosystem. Hinzu kommt der Klimawandel, der den uralten Kreislauf durcheinanderzubringen scheint – wie in diesem Jahr, in dem die ersehnten Regenfälle bislang fast vollständig ausgeblieben sind.

    “Für Tansania steht sehr viel auf dem Spiel”, sagt Muir. Ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts wolle das Land künftig mit Tourismus erwirtschaften, berichtet er. Gleichzeitig gebe es internationale Verpflichtungen, den Naturreichtum zu erhalten, immerhin gehöre die Serengeti “zu den Top Drei der Nationalparks der Erde”, neben Galápagos und Yellowstone.

    Was auf dem Spiel steht, lässt sich am folgenden Morgen erahnen, als es im Land Rover Richtung Süden geht. Hunderte Gnus und Zebras galoppieren entlang der Straße in langen Reihen über die Savanne, eine endlose Kolonne schnaufender und blökender Tierleiber, die zusammen- und wieder auseinanderzufließen scheinen wie die Strudel eines Flusses, der sich über das Land ergießt.

    Elefanten mit ihren Jungen trotten gemächlich durch den aufgewirbelten Staub, während Warzenschweinfamilien mit hoch erhobenen Schwänzchen über die Ebene sprinten. Unter einem Busch, kaum fünf Meter von der Straße entfernt, labt sich ein Rudel Löwen an den Eingeweiden eines frisch erlegten Gnus. Die Schnauzen rot von Blut, reißen sie schwer atmend Fleischbrocken aus dem Tierkörper heraus, direkt daneben parken die Geländewagen der Touristen.

    Aus den geöffneten Wagendächern ragen die Köpfe bleicher Amerikaner und Europäer heraus, deren ununterbrochen klickende Kameras mit ihren Teleobjektiven wirken wie seltsame Körperanhängsel. Die Löwen stört es nicht im Geringsten.

    Die ruhig fressenden Großkatzen neben den schier endlosen Herden – der Tod, so alltäglich, wirkt fast profan angesichts des üppigen Lebens ringsumher.

    Doch der Bilderreigen des anscheinend Wilden, Ursprünglichen trügt. Der natürliche Kreislauf ist auch in der Serengeti längst gestört. Nach einer Stunde Fahrt ist die Ranger-Station von Moru im Süden des Nationalparks erreicht. Hier hat Philbert Ngoti von der Anti-Wilderei-Einheit der Tanapa das Sagen. Zusammen mit 51 Wildhütern kontrolliert Ngoti ein tausend Quadratkilometer großes Gebiet, um die letzten rund 30 Spitzmaulnashörner der südlichen Serengeti zu schützen.

    Im Rest des Parks tummeln sich weitere 20 dieser Tiere; jedes von ihnen hüten die Ranger wie eine kostbare Preziose. Denn für Wilderer ist derzeit nichts so wertvoll wie das Horn der massigen Huftiere. “Wenn ein Wilderer zwischen einer Gruppe von Elefanten und einem Nashorn wählen kann, wird er das Nashorn töten”, erzählt Ngoti. Der Schwarzmarktpreis für das Horn, dessen Material dem von Fingernägeln gleicht, liege in Vietnam oder China bei mehreren 10 000 US-Dollar pro Kilogramm, berichtet der Ranger. Ein “lukratives Geschäft”, das er mit seinen Kollegen zu verhindern sucht.

    “Die Wilderer sind gut bewaffnet”, sagt Ngoti, “aber wir sind es auch.” Immer wieder komme es zu Feuergefechten. “Wer nicht vorsichtig und gut trainiert ist, kann hier leicht sein Leben verlieren”, sagt er.

    Die Ranger haben vielen der Nashörner einen Sender ins Horn implantiert. So können die Tiere leicht aufgespürt – und beschützt – werden. Mit dem Pritschenwagen geht es von Moru aus querfeldein über die Savanne. Einer der Männer streckt eine Antenne in den Himmel. Immer lauter wird das rhythmische Klicken des Empfängers. Dann taucht, zunächst kaum sichtbar gegen das gelbe Savannengras, ein massiges Nashorn in der Ferne auf. Rajabu haben es die Männer getauft, ein Bulle, über 40 Jahre alt. Gegen den Wind nähern sich die Ranger dem Tier. Es blickt herüber, zögert. Nashörner sind Einzelgänger, scheu und gleichzeitig gefährlich. Attacke oder Flucht: Ngoti hat schon beides erlebt. “Wenn wir zu schnell zu nah kommen, wird das Tier angreifen”, warnt er. Schließlich trollt sich das tonnenschwere Wesen.

    Ngoti und seine Männer können durchaus stolz auf ihre Arbeit sein. Denn Anfang der Neunzigerjahre hatten Wilderer die Nashörner in der Serengeti auf nur noch zwei Weibchen dezimiert. Aus dem nahen Ngorongoro-Schutzgebiet wanderte 1993 dann Rajabu in das Gebiet ein. Ein Glücksfall: Während das Abschlachten der Tiere in Südafrika eskaliert (Spiegel 11/2015) , wächst die Population in der Serengeti.

    “Im Moment werden fünf bis sechs Kälber jährlich geboren”, sagt Ngoti. Nur ein einziges Nashorn sei im vergangenen Jahr von Wilderern getötet worden.

    Ähnlich verhält es sich mit den Elefanten. Ihre Zahl liegt im Serengeti-Ökosystem nach einer Zählung von vergangenem Jahr bei rund 6000 Tieren – fünf Jahre zuvor waren es 3068. “Wir sehen sehr viele Jungtiere”, schwärmt ZGF-Mann Muir. Dabei geht der Trend in Tansania eigentlich in die andere Richtung: 2009 lebten rund 109 000 Elefanten in Tansania. Bei der jüngsten Erhebung 2014 waren es nur noch rund 44 000.

    Warum geht es den Tieren in der Serengeti besser? Das Erfolgsrezept der Tanapa sei es, sagt Muir, ständig Präsenz zu zeigen. Über 300 Ranger würden im Park patrouillieren. Auch die Touristen helfen. “Je mehr Leute hier herumfahren, desto schwieriger ist es für die Wilderer, versteckt zu operieren”, sagt der Biologe.

    Doch der Erfolg gegen die Wilderer im Park ist ein Pyrrhussieg, solange die Hintermänner nicht gefasst werden. Wie Kriminalisten sind die Tanapa-Experten daher auch in den umliegenden Dörfern im Einsatz. Wo wird die Schmuggelware gelagert? Über welche Kanäle gelangt sie nach Übersee? Woher kommen die Waffen?

    Der Kampf um die Serengeti muss vor allem außerhalb des Nationalparks gewonnen werden. Und dabei geht es nicht nur um die Wilderei allein. Drei bis vier Millionen Menschen leben heute in den Dörfern um das Schutzgebiet – weit mehr als noch zu Grzimeks Zeiten.

    Wilddiebe legen Drahtschlingen aus, in denen sich jährlich Tausende Gnus, Zebras oder Impalas verfangen und elend zugrunde gehen. Immer näher rücken die Felder der Einheimischen an die Parkgrenzen heran. Der Wasserhaushalt des Gebiets wird verändert, die Wanderschaft der Tiere behindert. Im Gegenzug trampeln marodierende Elefanten durch die Mais- und Hirsefelder der Menschen.

    Den Löwen wiederum gilt das Vieh als leichte Beute. Die Rache der Hirten kann ihnen gewiss sein. Gerade wieder sind zehn der Raubkatzen westlich des Parks vergiftet aufgefunden worden.

    Besonders schwierig ist die Situation östlich des Parks, in den Schutzgebieten Loliondo und Ngorongoro. Dort siedeln vor allem Massai. Das Hirtenvolk lebt traditionell mit seinen Rinderherden, die als Statussymbol gelten. Immer mehr Massai und damit auch immer mehr Rinder sind in den vergangenen Jahren in die Gegend eingewandert. Inzwischen ist das Land stark überweidet. Die Massai würden ihr Vieh gern in die Serengeti treiben. Doch das dürfen sie nicht.

    “Die Hirten sehen eine Menge Gras auf der anderen Seite”, erläutert ZGF-Mann Muir, “das führt zu Spannungen.” Ein Streit um die Grenzziehung des Parks ist entbrannt; manche der Landrechte außerhalb des Schutzgebiets sind bis heute ungeklärt. Und seit langer Zeit schon ist man sich nicht einig, wer genau über die Nutzung des Landes entscheiden darf. Im Oktober sind Parlamentswahlen in Tansania, darum ist alles hier im Moment politisch. Auch die Serengeti.

    “Die Gemeinden in der Nähe profitieren noch nicht genug vom Nationalpark”, sagt Muir. Tanapa und ZGF versuchen daher seit Jahren, den Einheimischen alternative Einkommensquellen zu eröffnen, die im Einklang mit dem Naturschutz stehen.

    In Nyichoka beispielsweise, einem Dorf etwa 30 Kilometer westlich des Nationalparks, haben sich an diesem Tag die Mitglieder der “Sinduka Cocoba Group” um einen runden Tisch versammelt, auf dem ein blauer, mit drei Schlössern gesicherter Metallkasten steht. Nach einem festgelegten Ritual wird die Box entriegelt. Zum Vorschein kommen vier mit Geldscheinen gefüllte Plastikdosen. Sie enthalten das Gesamtvermögen der örtlichen “Naturschutzbank”. Reihum zahlen die Männer und Frauen sogenannte Anteile von jeweils 4000 Tansania-Schilling ein (etwa zwei Euro). Dann werden Schulden getilgt und Auszahlungen getätigt.

    An jedem Samstag kommen die Mitglieder der Bank zusammen. Der Sinn der Geldschieberei: Die Dorfbewohner vom Stamm der Ikoma legen zusammen, um ihren Mitbürgern später Mikrokredite gewähren oder selbst welche in Anspruch nehmen zu können. Das Geld investieren sie in Projekte, die ihnen den Lebensunterhalt sichern. Einzige Bedingung für die Finanzspritze: Die Natur darf durch die Unternehmungen nicht beeinträchtigt werden.

    Agnes Marongoli beispielsweise hat mithilfe der Kredite gemeinsam mit ihrem Mann Maro ein kleines Kulturzentrum aufgebaut. Vor einer von ihnen errichteten traditionellen Hütte führt eine Tanzgruppe den “Singori” auf, einen Erntedanktanz. Touristen kommen hierher, um Kunsthandwerk zu kaufen und sich die uralten Tiermythen der Ikoma anzuhören. Zusätzlich verkaufen die Marongolis Honig an die Hotels der Gegend – auch die Bienenstöcke haben sie mit Mikrokrediten finanziert.

    “Wir waren Jäger”, sagt Marongoli, “jetzt profitieren wir von den Touristen, die in unsere Läden kommen.” Das Geschäft lohnt sich für sie, die nie eine Ausbildung bekommen hat: Ihre acht Kinder kann sie nun auf die Schule schicken.

    Die Gemeinden rund um Nyichoka haben ihr gesamtes Land zum Wildtier-Schutzgebiet umgewidmet. Bewusst verzichten sie auf Ackerbau, Jagd und Viehzucht. Das Gebiet grenzt direkt an den Nationalpark und ist eine Art Wildnis-Pufferzone. Die Tiere profitieren von der Erweiterung ihres Lebensraums. Gleichzeitig können die Gemeinden ihr Land direkt an Tourismusunternehmen verpachten. Acht Luxuszeltlager für Touristen sind in der Gegend entstanden.

    Im vergangenen Jahr sei dadurch rund eine halbe Million US-Dollar in die Gemeindekassen gespült worden, berichtet Masegeri Rurai, der die “Ikona Wildlife Management Area” für die ZGF betreut.

    Vom Tourismus im Nationalpark selbst profitiert die lokale Bevölkerung jedoch kaum. Mit den Gewinnen finanziert die Tanapa vor allem den Unterhalt der anderen 15 Nationalparks in Tansania, die kaum Einnahmen haben.

    Naturschutz ist ein teures Geschäft. Und der Tourismus muss ihn finanzieren. Doch wie ist die Balance zu halten? Im Massai-Mara-Schutzgebiet in Kenia stehen die Geländewagen in der Hauptsaison in langen Schlangen vor jedem Löwenrudel. Im Vergleich dazu wirkt die Serengeti menschenleer. Und das ist so gewollt.

    Zurück in Seronera wartet schon Tanapa-Mitarbeiter Godson Kimaro, Chef der Tourismusabteilung der Serengeti. “Wir wollen mehr Gäste hier haben”, sagt Kimaro, “aber gleichzeitig muss der Tourismus nachhaltig bleiben”. Rund 2700 Betten in etwa 120 Safari-Camps gibt es im gesamten Park. Kimaro plant etwa 550 zusätzliche Betten für die nächsten Jahre. Das muss dann aber auch reichen.

    Gleichzeitig will er das Angebot für die Gäste attraktiver machen. Neben den traditionellen “Game Drives” gibt es heute schon Heißluftballonfahrten. Spezielle Kurse für Tierfotografie, mehrtägige Wandertouren oder Dinnerpartys in der Wildnis schweben Kimaro vor.

    Für so viel Exklusivität muss man ordentlich zahlen: Schon der Eintritt in den Park kostet 60 US-Dollar, pro Tag. Dazu kommt die Übernachtung, die schon in den Safari-Zeltlagern 500 US-Dollar kosten kann. Wer ein echtes Dach über dem Kopf vorzieht, zahlt leicht das Doppelte.

    Fast ausschließlich aus Übersee sind daher die Gäste der Four Seasons Safari Lodge Serengeti, einer Hotelanlage nördlich von Seronera. Von der breiten Terrasse mit ihren edlen Sitzecken aus geht der Blick auf einen azurblau schimmernden Swimmingpool. Unterhalb des Beckens und kaum zehn Meter dahinter befindet sich ein künstlich angelegtes Wasserloch, das sich aus dem geklärten Brauchwasser des Hotels speist.

    An diesem Abend ist eine komplette Elefantenherde an der Tränke erschienen, dazu Impalas und eine Gruppe von Kaffernbüffeln. In der Ferne ziehen Giraffen. Langsam senkt sich die Sonne. Kellner reichen eisgekühlte Getränke. Ein warmer Wind umfächelt die Touristen. Es ist das perfekte Out-of-Africa-Abziehbild inklusive der Schirmakazien, die sich gegen den Himmel abzeichnen.

    Vielleicht ist genau dies das Schicksal der Wildnis: dass sie sich nur als kitschige Postkarte erhalten lässt, als ein Ort temporärer Zivilisationsflucht.

    “Die Natur aber bleibt ewig wichtig für uns”, schrieb Grzimek in seinem Serengeti-Buch. Politische Sorgen hingegen führten dann nur noch “ein Buchstabenleben” in Geschichtsbüchern. “Aber ob dann noch Gnus über die Steppen stampfen und nachts Leoparden brüllen, das wird den Menschen immer noch etwas bedeuten.”

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    [box]Wenn Bernhard Grzimek (1909 bis 1987), der damalige Direktordes Frankfurter Zoos, “Ein Platz für Tiere” moderierte, schauten in den Sechziger- und Siebzigerjahren Millionen zu. Grzimek war scharfzüngiger Tierschützer, Enzyklopädist (“Grzimeks Tierleben”) und Regisseur. Sein Film “Serengeti darf nicht sterben” verschaffte ihm Weltruhm.[/box]

  • Lieber naiv

    Von Philip Bethge, DER SPIEGEL 42/2014

    Mit großer Gleichgültigkeit nimmt die Welt die Hiobsbotschaften der 12. Biodiversitätskonferenz im südkoreanischen Pyeongchang zur Kenntnis: Die Vernichtung der Vielfalt geht fast ungebremst weiter. Keinesfalls wird es gelingen, wie geplant bis 2020 den Verlust an Artenvielfalt zu stoppen. Innerhalb von nur 40 Jahren sind die Wirbeltierpopulationen der Erde um die Hälfte geschrumpft, warnt der WWF. Die Versauerung der Ozeane bedroht das gesamte Meeresökosystem. Doch dringlich findet das offenbar niemand. Ein fataler Fehler. Denn der Verlust der Biodiversität ist die einzige wirklich irreversible globale Umweltveränderung. Und ohne Vielfalt stirbt auf lange Sicht auch der Mensch.

    Beispiel Ernährung: China hat jetzt schon 90 Prozent weniger Weizensorten als noch vor 60 Jahren, Indien 90 Prozent weniger Reissorten. Mangelt es jedoch an genetischen Varianten, können Pflanzen Naturkatastrophen oder Krankheiten nicht überstehen. Ganze Landwirtschaftszweige sind zudem bedroht, wenn Käfer, Bienen oder Schmetterlinge fehlen, die mehr als drei Viertel der wichtigsten Nutzpflanzen bestäuben, von Kürbissen über Äpfel bis zum Klee für die Nutztiere. Ob es neue Wirkstoffe für die Medizin sind, Enzyme und Mikroorganismen für die Biotechnologie oder neue Materialien wie etwa Spinnenseide – oft ist Vielfalt der Schlüssel zum Fortschritt. Und intakte Ökosysteme wirken auch als Ganzes. So wie in New York, wo die Catskill Mountains sauberes Trinkwasser bereitstellen. Oder auf den Philippinen, wo nur intakte Mangrovenwälder die Küste vor Tsunamis schützen können. Dabei kommt es auf jede Art an. Denn Ökosysteme sind wie Netze. Sie reißen, wenn zu viele Maschen fehlen.

    Der Zyniker zuckt mit den Schultern. Dann soll sich der Mensch eben ausrotten. Die Natur wird überdauern – in welcher Form auch immer. Ja, auch das ist richtig. Ich will aber kein Zyniker sein. Lieber schlage ich mich auf die Seite der vermeintlich Naiven. Ich will daran glauben, dass wir weitsichtiger, schlauer sind, dass wir noch längst nicht unser Bestes geben. Und ich will noch nicht einmal von der Hoffnung lassen, dass wir die Vielfalt aus einem ganz einfachen Grund erhalten werden: um ihrer selbst willen.

  • Nachtjägers Liebeslied

    Eine deutsche Biologin erforscht in Panama die Gesänge der Fledermäuse. Die Ultraschallsongs sind mitunter so komplex wie die Balladen von Vögeln. Linguisten wollen darin sogar Hinweise finden, wie die menschliche Sprache entstand.

    Von Philip Bethge

    Das Männchen der Großen Sackflügelfledermaus wirbt mit Gesang und Spucke um die Gunst des Weibchens. Im Schwirrflug steht der Troubadour vor der Angebeteten in der Luft und singt dabei sein Liebeslied.

    Alle paar Sekunden lässt der Fledermäuserich dabei Hautsäcke an seinen Armen aufschnappen. Darin fermentieren Urin, Speichel und andere Körpersekrete – aus Fledermausweibchensicht ein betörender Duft.

    “Die Männchen legen sich wahnsinnig ins Zeug”, schwärmt Mirjam Knörnschild. “Sie können sich eine Stunde lang mit einem Weibchen beschäftigen.” Die Biologin von der Universität Ulm blickt hinauf zu den Tieren, die weit oben in einem hohlen Baum vor sich hin flirten. Immer wieder schwirrt der nur etwa sieben Gramm schwere Fledermann vor der Angebeteten, ähnlich wie ein Kolibri vor der Blüte. Die Umworbene hängt derweil kopfüber im Baum und feuert den Minnesänger mit kurzen Schreien an.

    “Komm schon, komm schon, wie lange kannst du noch so fliegen?”, übersetzt Knörnschild die Rufe des Weibchens und horcht dann wieder mit dem Ultraschallmikrofon hinein ins Fledermaus-Duett. Die Forscherin ist Expertin für die Fledertier-Minne. Auf Barro Colorado Island, einer Insel mitten im Panamakanal gelegen, lauscht sie dem Singsang der Tiere.

    Ein neues Reich der Melodien tut sich auf – Forscher ergründen den Gesang der Fledermäuse. Bislang waren die Nachtjäger vor allem für ihre kurzen Ultraschalllaute bekannt, mit denen sie noch in pechschwarzer Nacht unfallfrei durchs Dickicht navigieren. Inzwischen jedoch zeigt sich: Auch liebliches Liedgut gehört zum Repertoire. Viele Fledermäuse singen wie Vögel.

    Ein Trillern, Tschirpen und Tirilieren hallt durch hohle Bäume, düstere Höhlen und alte Gemäuer. Ausgefeilt wie Nachtigallenjubel erweisen sich manche der Gesänge. Und viele der Melodien sind sogar erlernt: Einige Fledermäuschen gehen bei ihren Eltern in die Gesangsschule – das macht ansonsten nur der Nachwuchs von Menschen, Elefanten, Walen, von Delfinen, manchen Robben und vielen Vögeln.

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    “Vokales Lernen ist sehr selten im Tierreich”, erläutert Tecumseh Fitch, Kognitionsbiologe an der Universität Wien, der sich auf Tierkommunikation spezialisiert hat. Dass nun ausgerechnet die Flattertiere Melodien pauken, erscheint Fitch als pures Forscherglück. “Fledermäuse sind Säugetiere”, sagt er, “ihr Gehirn funktioniert ähnlich wie unseres.”

    Anders als etwa Delfine oder Elefanten ließen sich die Tiere zudem relativ problemlos im Labor untersuchen. “Ich glaube, dass Fledermäuse uns dabei helfen werden, die Evolution der menschlichen Sprache besser zu verstehen”, schwärmt Fitch.

    Das Konzert der Fledermäuse blieb lange Zeit unentdeckt, weil die Tiere es großteils außerhalb der Hörwelt des Menschen vorführen. Doch dank tragbarer Ultraschallmikrofone und Digitaltechnik für die Audiobearbeitung lässt sich die kleine Nachtmusik der Tiere immer besser erforschen. Dabei zeigt sich: Singende Fledermäuse finden sich allerorten.

    In Ostafrika brummelt die Herznasenfledermaus ihre Territorialgesänge durch die Nacht. Sie singt so tief, dass die Lieder auch für den Menschen gut zu hören sind. Von Brasilien bis Mexiko wiederum trällern die Männchen der Mexikanischen Bulldoggfledermaus. Die Biologin Kirsten Bohn von der Florida International University hat herausgefunden, dass die Tiere dabei sogar eine Art Syntax verwenden. Ihr Tschirpen und Summen kombinieren sie zu Satzteilen, diese Teile wiederum zu komplexen Songs. Die Abfolge passen sie dabei der jeweiligen sozialen Situation an.

    Auch in Deutschland singen die Fledertiere. Gerade jetzt ist für den Großen Abendsegler Paarungszeit. Die Männchen setzen sich in den Abendstunden und nachts an sogenannte Balzwarten, zum Beispiel vor Baumhöhlen. Dort singen sie – um ihr Revier zu verteidigen und um Weibchen anzulocken. Im Herbst balzt auch die Zweifarbfledermaus. Eigentlich ist sie an Felswänden heimisch. Jetzt fliegt sie häufig in der Nähe von hohen Häusern und Kirchen.

    Am besten lassen sich die Freiluftkonzerte der Flugsäuger allerdings in den Tropen erforschen. Dort gibt es nicht nur sehr viele Fledermausarten. Den Wissenschaftlern hilft auch, dass viele der Tiere weder wegziehen noch in den Winterschlaf fallen.

    Panamas Barro Colorado Island gehört zu den fledermausreichsten Weltgegenden überhaupt. Die vor mehr als hundert Jahren beim Bau des Panamakanals entstandene Insel ist eine Art riesiges Freilandlabor. Wer hier mit dem Boot ankommt, fühlt sich wie im Kinohit “Jurassic Park”. Dichter Regenwald reicht bis hinunter ans Ufer. Dort warnen Schilder vor den zahlreichen Krokodilen.

    An einer kleinen Bucht liegt die Forschungsstation des Smithsonian Tropical Research Institute. Wissenschaftler aus aller Welt mieten sich für Wochen oder Monate ein, um die einzigartige Lebenswelt des fast unberührten Dschungels zu studieren.

    Mirjam Knörnschild kommt seit über zehn Jahren regelmäßig hierher. Sie nennt die Anlage den “Club Med” unter den Forschungsstationen. Dreimal am Tag gibt es Kantinenessen. Duschen und Ventilatoren helfen gegen die schwüle Hitze, die schwer wie eine Dunstglocke über den gelb getünchten Gebäuden liegt.

    Die Biologin wartet am Anleger in Badelatschen, Multifunktionshose und Trägerhemdchen. Das blonde Haar hat die 35-Jährige zum Pferdeschwanz gebündelt. Ihr Büro liegt im zweiten Stock eines der Hauptgebäude. Schon auf dem Weg gibt es erste Fledermäuse zu sehen. Wie riesige dunkle Käfer krallen sie sich unter dem Vordach des Hauses kopfunter an die Wand. Deutlich sichtbar sind die Tiere mit bunten Ringen, die ihnen Knörnschild angelegt hat, an den Flügeln markiert. “Ich kenne hier jede Fledermaus persönlich”, scherzt die Forscherin.

    Große Sackflügelfledermäuse leben in Kolonien. Typischerweise schare ein Männchen einen Harem von zwei bis acht Weibchen um sich, die allerdings ausgesprochen wählerisch seien, erzählt Knörnschild. Obschon die Paarungszeit nur wenige Wochen dauert, muss der Fledermann die Damen das ganze Jahr über mit Gesang bezirzen – sonst macht sich die Flederfrau auf und davon zum Nachbar-Barden. Gleichzeitig muss der Fledermäuserich sein Revier verteidigen. Auch das erledigt er vor allem musikalisch.

    Wer die Tiere dabei belauschen will, macht sich am besten gegen Abend auf den Weg. Fast windstill ist es an diesem Tag unter hellgrauem Himmel. Das kleine Motorboot der Biologen schneidet seine ruhige Spur durch das graugrüne Wasser des Panamakanals, der sich hier zum Gatúnsee weitet. Nach kurzer Fahrt um die Insel ist ein kleiner Anleger erreicht, dort ein paar Gebäude, eine Lichtung, dahinter dichter Wald. Tukane rufen rau. Tauben gurren. Kapuzineraffen hangeln mit Getöse durch die Bäume. Über allem liegt der monotone Gesang der Zikaden.

    Die Großen Sackflügelfledermäuse leben unter dem überhängenden Dach eines kleinen Steinhauses. Noch dösen die Tiere. Knörnschild und ihr Kollege, der Biologe Thomas Hiller, spannen Fangnetze aus feinen Plastikfäden auf, die kaum sichtbar und auch per Echoortung schwierig zu entdecken sind. Dann startet Knörnschild ihren Lauschangriff. Ihr Richtmikrofon erfasst Frequenzen von bis zu 460 Kilohertz. Für das menschliche Ohr ist schon bei rund 20 Kilohertz Schluss.

    Bald beginnt der Balzgesang der Männchen, ein feines Gezwitscher, “am ehesten mit Nachtigallengesang vergleichbar”, sagt Knörnschild. Auf dem angeschlossenen Laptop kann die Biologin den Frequenzgang der Laute direkt grafisch verfolgen.

    Kurze Zeit später fangen die Barden der Nacht mit ihren Territorialgesängen an, rasend schnellen Abfolgen harter, rauer Silben, von denen ein Teil auch ohne Technik zu hören ist. Zwischendurch blitzen immer wieder die kurzen, hochfrequenten Echoortungslaute auf dem Bildschirm auf.

    Und auch das Singen einiger Jungtiere ist bald zu erahnen. “Babbeln” nennt Knörnschild die piepsigen Laute. “Die Jungen durchlaufen eine Phase, die mit der Plapperphase von Kleinkindern vergleichbar ist”, sagt sie, “dabei mixen sie ganz wild Sachen aus dem Lautrepertoire ihrer Eltern zusammen, offenbar um zu üben.”

    Knörnschild nimmt die Gesänge seit Jahren auf. Manchmal stellt sie auch Lautsprecherboxen in den Dschungel und spielt den Tieren Aufnahmen von Artgenossen vor. Die Forschungsergebnisse zeigen, wie vielseitig der Singsang ist. Große Sackflügelfledermäuse können sich beispielsweise individuell an ihren Gesängen erkennen. Bestimmte Triller nennt Knörnschild sogar “Passwörter”: Sie signalisieren die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.

    Die Balzgesänge wiederum sind wahre Werbebotschaften. “Die Weibchen scheinen auf Vielfalt Wert zu legen”, erläutert Knörnschild, “wir haben Hinweise, dass sich Männchen, die variabler und tieffrequenter singen, erfolgreicher fortpflanzen.” Der mit der schönsten Ballade und der tiefsten Stimme wird also auch bei Fledermäusen schnell zum Frauenschwarm.

    Und wahrscheinlich gibt es – ähnlich wie bei Walen – sogar Dialekte. So singen die Großen Sackflügelfledermäuse Panamas beispielsweise anders als jene in Costa Rica. Dort wiederum hören sich die Fledermaussongs an der Atlantikküste etwas anders an als am Pazifik. Die beiden Populationen sind durch eine Vulkankette in der Mitte des Landes getrennt.

    “Für die Fledermäuse ist der Gesang eine sehr effektive Art zu kommunizieren”, fasst Knörnschild zusammen. Die Biologin klappt jetzt ihren Laptop zu. Das Konzert ist für diesen Abend vorbei. Die Dunkelheit kommt schnell in den Tropen, und die ersten Tiere verlassen nun die Kolonie, um den nächtlichen Raubzug zu starten. Bald zappeln einige von ihnen im aufgespannten Fangnetz der Forscher.

    Vorsichtig löst Knörnschild die zarten Tiere heraus und beginnt, sie zu vermessen. Unterarmlänge, Gewicht und Gesundheitszustand notiert die Biologin. Aus der Flügelhaut entnimmt sie mit einer Art Locher eine Gewebeprobe für die Erbgutanalyse (das Loch wächst nach einigen Tagen wieder zu). Dann werden die Tiere mit routinierten Griffen beringt. Nachdem die Prozedur überstanden ist, entlässt Knörnschild die Fledermäuse, eine nach der anderen, zurück in die feuchte Tropennacht.

    Warum singen die Fledermäuse so vielseitig und ausdauernd? Die meisten Säugetiere sind reichlich einsilbig. Hunde bellen. Pferde wiehern. Katzen miauen. Selbst Schimpansen verfügen über ein Repertoire von nur etwa 15 Lauten.

    Anders manche Fledermäuse: Sie jubilieren, variieren, kopieren. Einige der Tiere könnten gar in der Lage sein, nicht nur als Jungtiere, sondern ihr ganzes Leben lang neue Gesänge zu erlernen, vermuten die Forscher. Warum nur? Eine Theorie: Ihr komplexes Sozialleben könnte die Quasselei hervorgebracht haben.

    Auch für den Menschen wird die Hypothese der sogenannten Machiavellischen Intelligenz diskutiert: Soziale Expertise treibt demnach die Evolution von Intelligenz voran, auch die von Sprache. Wer sich in der Gruppe zurechtfinden muss – sei es für die Jagd, die Balz oder die Aufzucht der Jungen -, dem nützt es, viel zu quatschen. Bei den Fledermäusen konnte Knörnschild die Theorie schon testen. Fünf Arten hat sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Martina Nagy verglichen. Tatsächlich zeigt sich: Je komplexer das Sozialgefüge, desto komplexer die Gesänge.

    Eine andere Theorie: Tiere, die viel schwatzen, tun es schlicht deshalb, weil es ihnen möglich ist. Schimpansen etwa ist es anatomisch verwehrt, komplexere Laute

    zu produzieren. Der Mensch hingegen ist dafür mit seinem tief liegenden Kehlkopf bestens ausgerüstet.

    Ähnlich die Fledermäuse: Für die Echoortung haben sie einen Stimmapparat entwickelt, der sich auch für die Kommunikation eignet. Gleiches gilt zum Beispiel für Delfine, die sich ebenfalls per Ultraschall orientieren.

    “Bei diesen Tieren war die Anatomie der Stimme ja schon vorhanden”, erläutert Fitch. “Um auch kommunizieren zu können, mussten sie diese Fähigkeit nur weiterentwickeln.”

    Die schönste Theorie indes führt die Sprachevolution auf die Liebe zurück. Schon Darwin vermutete: Sprache entstand schlicht deshalb, weil Weibchen Männchen gern singen hörten. Auch der Mensch – genauer der Mann – war demnach erst Sänger, dann Plaudertasche.

    “Das Männchen singt ,Scoobie-du-bi-dab-dab-doubi-du’”, erläutert Fitch, “das Weibchen denkt ,Wow, ich mag dieses Lied’.” Auch ein Duett mag der Ursprung des Gesprächs gewesen sein, sagt der Kognitionsforscher. Einige Primaten singen bis heute zu zweit. Die Gibbons Südostasiens etwa: Bei ihnen sei das Duett “Teil des musikalischen Werbens, aber auch ein Signal an alle anderen, dass dort zwei zusammengehören und die Partnerschaft gut funktioniert”, sagt Fitch.

    Die Fledermaus-Gesangsforschung, so hoffen die Forscher nun, soll derlei Hypothesen weiter erhärten. Rund 960 Fledermausarten leben auf der Erde. Bislang haben Biologen nur etwa 20 von ihnen beim Singen ertappt. “Da gibt es noch sehr viel zu entdecken”, sagt Knörnschild.

    Gerade hat sie die letzte Fledermaus von ihrer Hand aus zurück in die Nacht starten lassen. Stockdunkel ist es inzwischen im Dschungel Panamas geworden. Im Schein ihrer Kopflampen packen die Biologen ihre Fangnetze zusammen und bringen alles zurück zum Boot, während die Mücken das unerwartet reichhaltige Abendmahl aus Forscherblut feiern.

    Beim Ablegen blickt Knörnschild zurück auf den dunklen Wald. Am Rand des Dickichts jagen nun die Großen Sackflügelfledermäuse nach den Insekten der Nacht. Morgen früh werden die Männchen in ihre Kolonien zurückkehren und jeder ihrer Liebsten bei Ankunft jeweils eine neue Ballade widmen.

    Die Nacht ist hier voller Lieder – und für die Liebe singen sich wohl auch Fledermäuseriche fast um den Verstand.

     

  • Die Qual der Wale

    Von Philip Bethge, DER SPIEGEL 38/2014

    Vor einigen Wochen bereiste ich die Ostküste der USA. Auf der Insel Nantucket, einst Hochburg des Walfangs, erfuhr ich im örtlichen Museum, dass die Indianer die Tiere dort vor 400 Jahren mit kleinen Booten noch direkt vom Strand aus jagen konnten – so viele Wale gab es damals im Atlantik. Dann fuhren wir zum Whale-Watching hinaus aufs Meer, und ich erlebte, wie drei Buckelwale nebeneinander unter unserem Schiff hindurchtauchten – ein unvergesslicher, magischer Moment.

    Die Meeressäuger lassen uns nicht kalt. Diese Wesen sind intelligent, leidensfähig und hochgradig sozial. Das oftmals frustrierende Ringen um den Schutz dieser Tiere darf deshalb nicht aufhören – das Engagement der Artenschützer auf der Tagung der “International Whaling Commission” diese Woche in Slowenien ist sogar wichtiger denn je. Island jagt immer mehr bedrohte Finnwale und exportiert das Fleisch nach Japan. Norwegen vermeldet steigende Zahlen getöteter Zwergwale. Die Grönländer jagen weiter und locken “abenteuerlustige Gourmets” auf ihrer Tourismus-Website mit “Mattak”, Walspeck, ins Land. Und Japan will weiter unter dem Deckmantel der Forschung Walfang betreiben. All das untergräbt das kommerzielle Walfangmoratorium und macht wütend.

    Wer etwas dagegen tun will, kauft keinen Fisch mehr von Firmen wie der isländischen HB Grandi, die eng mit dem Walfang verbunden ist. Auch den Besuch von Delfinarien sollten wir uns sparen. Die Delfinschlächter in der Bucht von Taiji in Japan richten in diesem Jahr auch deshalb wieder ein Massaker an, weil sie einige wenige der Tiere für viel Geld an Zoos verkaufen können. Jedes Delfinarium, auch das in Duisburg oder Nürnberg, befördert eine Kultur, die Meeressäuger zu Clowns macht. Das Fangen und Töten von Walen und Delfinen passt nicht mehr in die Zeit. Sie endlich in Ruhe zu lassen würde uns Menschen ehren.