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    Ein Spielfilm feiert Bernhard Grzimek als Naturschützer der ersten Stunde. Die Serengeti in Afrika war der Sehnsuchtsort des Zoodirektors, ihre Rettung war sein Lebenswerk. Was ist aus dem Vermächtnis des großen Tierliebhabers geworden?

    Von Philip Bethge – DER SPIEGEL 14/2015  VIDEO

    Khetho Ncube hat schon viele Könige aus dem Dickicht springen sehen. “Häufig sitzen die Löwen dort im Schilf und warten auf Tiere, die zum Wasser wollen”, sagt der Tansanier und zeigt hinüber zum Ufer des nahen Flüsschens. Seine Winchester, geladen mit Patronen vom Großwild-Kaliber .458, hält der bullige Wildführer dabei fest in der Linken.

    Beruhigend. Denn wer in der Serengeti spazieren geht, fühlt sich schnell wie Löwenfutter.

    “Immer in meiner Nähe bleiben”, hatte Ncube am Morgen gemahnt, als die Sonne langsam den Himmel über der blassgelben Savanne eroberte. Für den Ernstfall vereinbarte er Handzeichen: stopp, langsam zurück, hinhocken.

    Jetzt eilt der Wildführer voraus, hinter sich eine in Ehrfurcht verstummte Touristenschar. Ein junger Massai im königsblauen Gewand, den traditionellen Mkuki-Speer in der Hand, geht am Ende der Wandergruppe, wohl als Attraktion für die Gäste, vielleicht aber auch tatsächlich, um rechtzeitig vor Simba, Tembo und Chui zu warnen. So heißen Löwe, Elefant und Leopard in der Landessprache Kisuaheli.

    Ncube liest den Savannenboden wie eine Karte, findet den Kot von Hyänen, weiß vom Kalzium der Knochen ihrer Opfer, und Elefantendung voll spitzer Akaziendornen (“Niemals drüberfahren, sonst ist der Reifen platt”). Dann hebt er die Hand. Die Besucherkarawane kommt zum Stillstand. Vier Kaffernbüffel galoppieren unweit vorbei, muskulöse Fleischberge mit furchterregenden Hörnern.

    “Die gefährlichsten der großen Wildtiere”, flüstert Khetho Ncube, der für einen Reiseveranstalter arbeitet. “Die sollte man nicht überraschen.” Gereizte Elefanten würden erst mal eine Scheinattacke führen, Ohren nach vorn, wütend peitschender Rüssel, berichtet der Wildführer, “aber wenn ein Büffel angreift, ist man in Todesgefahr”.

    “Walking Safari” heißt das Abenteuer, an dem an diesem Tag zum Beispiel Pat Kurtiniatis und Mike Cramer teilnehmen, ein Rentnerpaar aus dem Orange County in Kalifornien. Die Reise stand bei ihnen auf jener Liste wichtiger Dinge, die sie noch tun wollten in ihrem Leben.

    Der Serengeti-Nationalpark in Tansania, etwa so groß wie Schleswig-Holstein, ist eines der letzten großen Wildnisgebiete der Erde, ein Sehnsuchtsort der Menschheit auf der Suche nach dem Natürlichen, Unberührten, Ursprünglichen. Kaum einer wusste das besser als Bernhard Grzimek , der langjährige Direktor des Frankfurter Zoos, der vor mehr als 55 Jahren mit seinem Sohn Michael in diese endlose Savanne kam und den Dokumentarfilm “Serengeti darf nicht sterben” drehte.

    Am kommenden Freitag zeigt die ARD einen neuen Spielfilm über Grzimek , den Deutschen, der nicht weniger vorhatte, als die Fauna Afrikas zu retten. In der Hauptrolle: Ulrich Tukur, der den Mann als visionären Tierschützer gibt, als sendungsbewussten Ökopionier – und großen Frauenhelden.

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    In modischem Einreiher, das Silberhaar sorgsam gescheitelt, plauderte Grzimek in seiner Fernsehsendung “Ein Platz für Tiere” weitgehend konzeptfrei über See-Elefanten und Trompeterschwäne, über doppelköpfige Nattern oder Paradiesvögel, während ihn ein passender tierischer Partner aus dem Frankfurter Zoo umspielte.

    Weltweite Berühmtheit verschaffte sich der Tierheger allerdings erst, als er nach Afrika aufbrach und mit “kreuzzüglerischem Pathos vor der Vernichtung der letzten frei lebenden Großwildherden Afrikas warnte”, wie der schrieb.

    Die britische Verwaltung des damaligen Tanganjika beabsichtigte, die Grenzen des Serengeti-Nationalparks neu zu ziehen, um dem Wunsch der Massai nach mehr Weideflächen zu genügen. Doch welche Grenzen sollten das sein? Grzimek und sein Sohn lernten fliegen, reisten mit einem zebragestreiften Kleinflugzeug nach Ostafrika und zählten mit der Sorgfalt preußischer Verwaltungsbeamter die in der Serengeti lebenden Gnus (99 481), Zebras (57 199) und Grant- sowie Thomson-Gazellen (194 654) , um deren Wanderwege zu bestimmen.

    Die Erlebnisse in der Savanne verarbeitete Grzimek zu dem Film “Serengeti darf nicht sterben”. Das Werk (Grzimek: “Nebenbei gedreht”) trug ihn auf den Gipfel seines Ruhms und wurde 1960 mit einem Oscar ausgezeichnet. Sohn Michael erlebte den Triumph nicht mehr: Er war im Januar 1959 noch während der Dreharbeiten mit der Dornier Do 27 des Duos abgestürzt.

    Der Vater verschrieb sich umso entschlossener der Aufgabe, die Serengeti zu bewahren. Als er 1987 starb und neben seinem Sohn am Rand des Ngorongoro-Kraters beerdigt wurde, war die Wildnis der Serengeti weltberühmt.

    Doch was ist aus Grzimeks Vermächtnis geworden? Wie steht es um die Serengeti, fast 30 Jahre nach dem Tod des zoologischen Dampfplauderers? Und, viel grundsätzlicher: Kann es auch in dieser immer dichter bevölkerten Welt gelingen, der Großfauna, also Elefanten, Nashörnern, Büffeln oder Löwen, ein dauerhaftes Überleben in freier Wildbahn zu garantieren?

    Antworten gibt es vor Ort, am besten direkt im Herzen des Nationalparks, in Seronera. Der Ort, kaum mehr als ein paar versprengte Häuser, ist Sitz der Parkverwaltung. Grzimek ist hier immer noch präsent. Als Pappkamerad steht er im Besucherzentrum neben dem ersten Staatspräsidenten Tansanias, Julius Nyerere.

    Grzimeks Statthalter vor Ort heißt Robert Muir, Afrikachef der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF) mit ihrem Gorilla-Logo. Der drahtige Brite empfängt auf der Veranda seines kleinen Wohnhauses, von der aus der Blick über die weite, mit Akazien und Buschwerk gesprenkelte Ebene geht. Unweit weiden Antilopen und Giraffen. Später wandern zwei Elefanten nur wenige Meter am Haus vorbei.

    “Grzimeks Arbeit war visionär”, sagt Muir, “er hat Nyerere überzeugt, die Parkgrenzen so zu legen, dass die Tiere ihren Wanderwegen folgen können.”

    Rund zwei Millionen Weißbartgnus, Zebras und Thomson-Gazellen ziehen im Jahresrhythmus durch die Serengeti und die angrenzenden Gebiete , fünfmal mehr als noch zu Grzimeks Zeiten. Über 26 000 Quadratkilometer erstreckt sich ihre Wanderung, von Tansania nach Kenia in das Massai-Mara-Schutzgebiet und zurück, durch die Flüsse Mara, Grumeti und Mbalageti, in denen die Krokodile lauern.

    Das Naturwunder der Serengeti, es existiere noch, sagt Muir. Doch der Druck wächst. Rund 170 000 Touristen aus aller Welt besuchen jährlich den Wildnispark. Geht es nach der tansanischen Nationalparkbehörde (Tanapa) , sollen es künftig jedoch noch mehr werden. Gleichzeitig kommen Wilderer in das Gebiet – auf blutiger Jagd nach Elfenbein und Nashorn.

    Und immer mehr Menschen leben um den Park herum. Rodung, Landwirtschaft, Viehherden und Wasserknappheit bedrohen das Ökosystem. Hinzu kommt der Klimawandel, der den uralten Kreislauf durcheinanderzubringen scheint – wie in diesem Jahr, in dem die ersehnten Regenfälle bislang fast vollständig ausgeblieben sind.

    “Für Tansania steht sehr viel auf dem Spiel”, sagt Muir. Ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts wolle das Land künftig mit Tourismus erwirtschaften, berichtet er. Gleichzeitig gebe es internationale Verpflichtungen, den Naturreichtum zu erhalten, immerhin gehöre die Serengeti “zu den Top Drei der Nationalparks der Erde”, neben Galápagos und Yellowstone.

    Was auf dem Spiel steht, lässt sich am folgenden Morgen erahnen, als es im Land Rover Richtung Süden geht. Hunderte Gnus und Zebras galoppieren entlang der Straße in langen Reihen über die Savanne, eine endlose Kolonne schnaufender und blökender Tierleiber, die zusammen- und wieder auseinanderzufließen scheinen wie die Strudel eines Flusses, der sich über das Land ergießt.

    Elefanten mit ihren Jungen trotten gemächlich durch den aufgewirbelten Staub, während Warzenschweinfamilien mit hoch erhobenen Schwänzchen über die Ebene sprinten. Unter einem Busch, kaum fünf Meter von der Straße entfernt, labt sich ein Rudel Löwen an den Eingeweiden eines frisch erlegten Gnus. Die Schnauzen rot von Blut, reißen sie schwer atmend Fleischbrocken aus dem Tierkörper heraus, direkt daneben parken die Geländewagen der Touristen.

    Aus den geöffneten Wagendächern ragen die Köpfe bleicher Amerikaner und Europäer heraus, deren ununterbrochen klickende Kameras mit ihren Teleobjektiven wirken wie seltsame Körperanhängsel. Die Löwen stört es nicht im Geringsten.

    Die ruhig fressenden Großkatzen neben den schier endlosen Herden – der Tod, so alltäglich, wirkt fast profan angesichts des üppigen Lebens ringsumher.

    Doch der Bilderreigen des anscheinend Wilden, Ursprünglichen trügt. Der natürliche Kreislauf ist auch in der Serengeti längst gestört. Nach einer Stunde Fahrt ist die Ranger-Station von Moru im Süden des Nationalparks erreicht. Hier hat Philbert Ngoti von der Anti-Wilderei-Einheit der Tanapa das Sagen. Zusammen mit 51 Wildhütern kontrolliert Ngoti ein tausend Quadratkilometer großes Gebiet, um die letzten rund 30 Spitzmaulnashörner der südlichen Serengeti zu schützen.

    Im Rest des Parks tummeln sich weitere 20 dieser Tiere; jedes von ihnen hüten die Ranger wie eine kostbare Preziose. Denn für Wilderer ist derzeit nichts so wertvoll wie das Horn der massigen Huftiere. “Wenn ein Wilderer zwischen einer Gruppe von Elefanten und einem Nashorn wählen kann, wird er das Nashorn töten”, erzählt Ngoti. Der Schwarzmarktpreis für das Horn, dessen Material dem von Fingernägeln gleicht, liege in Vietnam oder China bei mehreren 10 000 US-Dollar pro Kilogramm, berichtet der Ranger. Ein “lukratives Geschäft”, das er mit seinen Kollegen zu verhindern sucht.

    “Die Wilderer sind gut bewaffnet”, sagt Ngoti, “aber wir sind es auch.” Immer wieder komme es zu Feuergefechten. “Wer nicht vorsichtig und gut trainiert ist, kann hier leicht sein Leben verlieren”, sagt er.

    Die Ranger haben vielen der Nashörner einen Sender ins Horn implantiert. So können die Tiere leicht aufgespürt – und beschützt – werden. Mit dem Pritschenwagen geht es von Moru aus querfeldein über die Savanne. Einer der Männer streckt eine Antenne in den Himmel. Immer lauter wird das rhythmische Klicken des Empfängers. Dann taucht, zunächst kaum sichtbar gegen das gelbe Savannengras, ein massiges Nashorn in der Ferne auf. Rajabu haben es die Männer getauft, ein Bulle, über 40 Jahre alt. Gegen den Wind nähern sich die Ranger dem Tier. Es blickt herüber, zögert. Nashörner sind Einzelgänger, scheu und gleichzeitig gefährlich. Attacke oder Flucht: Ngoti hat schon beides erlebt. “Wenn wir zu schnell zu nah kommen, wird das Tier angreifen”, warnt er. Schließlich trollt sich das tonnenschwere Wesen.

    Ngoti und seine Männer können durchaus stolz auf ihre Arbeit sein. Denn Anfang der Neunzigerjahre hatten Wilderer die Nashörner in der Serengeti auf nur noch zwei Weibchen dezimiert. Aus dem nahen Ngorongoro-Schutzgebiet wanderte 1993 dann Rajabu in das Gebiet ein. Ein Glücksfall: Während das Abschlachten der Tiere in Südafrika eskaliert (Spiegel 11/2015) , wächst die Population in der Serengeti.

    “Im Moment werden fünf bis sechs Kälber jährlich geboren”, sagt Ngoti. Nur ein einziges Nashorn sei im vergangenen Jahr von Wilderern getötet worden.

    Ähnlich verhält es sich mit den Elefanten. Ihre Zahl liegt im Serengeti-Ökosystem nach einer Zählung von vergangenem Jahr bei rund 6000 Tieren – fünf Jahre zuvor waren es 3068. “Wir sehen sehr viele Jungtiere”, schwärmt ZGF-Mann Muir. Dabei geht der Trend in Tansania eigentlich in die andere Richtung: 2009 lebten rund 109 000 Elefanten in Tansania. Bei der jüngsten Erhebung 2014 waren es nur noch rund 44 000.

    Warum geht es den Tieren in der Serengeti besser? Das Erfolgsrezept der Tanapa sei es, sagt Muir, ständig Präsenz zu zeigen. Über 300 Ranger würden im Park patrouillieren. Auch die Touristen helfen. “Je mehr Leute hier herumfahren, desto schwieriger ist es für die Wilderer, versteckt zu operieren”, sagt der Biologe.

    Doch der Erfolg gegen die Wilderer im Park ist ein Pyrrhussieg, solange die Hintermänner nicht gefasst werden. Wie Kriminalisten sind die Tanapa-Experten daher auch in den umliegenden Dörfern im Einsatz. Wo wird die Schmuggelware gelagert? Über welche Kanäle gelangt sie nach Übersee? Woher kommen die Waffen?

    Der Kampf um die Serengeti muss vor allem außerhalb des Nationalparks gewonnen werden. Und dabei geht es nicht nur um die Wilderei allein. Drei bis vier Millionen Menschen leben heute in den Dörfern um das Schutzgebiet – weit mehr als noch zu Grzimeks Zeiten.

    Wilddiebe legen Drahtschlingen aus, in denen sich jährlich Tausende Gnus, Zebras oder Impalas verfangen und elend zugrunde gehen. Immer näher rücken die Felder der Einheimischen an die Parkgrenzen heran. Der Wasserhaushalt des Gebiets wird verändert, die Wanderschaft der Tiere behindert. Im Gegenzug trampeln marodierende Elefanten durch die Mais- und Hirsefelder der Menschen.

    Den Löwen wiederum gilt das Vieh als leichte Beute. Die Rache der Hirten kann ihnen gewiss sein. Gerade wieder sind zehn der Raubkatzen westlich des Parks vergiftet aufgefunden worden.

    Besonders schwierig ist die Situation östlich des Parks, in den Schutzgebieten Loliondo und Ngorongoro. Dort siedeln vor allem Massai. Das Hirtenvolk lebt traditionell mit seinen Rinderherden, die als Statussymbol gelten. Immer mehr Massai und damit auch immer mehr Rinder sind in den vergangenen Jahren in die Gegend eingewandert. Inzwischen ist das Land stark überweidet. Die Massai würden ihr Vieh gern in die Serengeti treiben. Doch das dürfen sie nicht.

    “Die Hirten sehen eine Menge Gras auf der anderen Seite”, erläutert ZGF-Mann Muir, “das führt zu Spannungen.” Ein Streit um die Grenzziehung des Parks ist entbrannt; manche der Landrechte außerhalb des Schutzgebiets sind bis heute ungeklärt. Und seit langer Zeit schon ist man sich nicht einig, wer genau über die Nutzung des Landes entscheiden darf. Im Oktober sind Parlamentswahlen in Tansania, darum ist alles hier im Moment politisch. Auch die Serengeti.

    “Die Gemeinden in der Nähe profitieren noch nicht genug vom Nationalpark”, sagt Muir. Tanapa und ZGF versuchen daher seit Jahren, den Einheimischen alternative Einkommensquellen zu eröffnen, die im Einklang mit dem Naturschutz stehen.

    In Nyichoka beispielsweise, einem Dorf etwa 30 Kilometer westlich des Nationalparks, haben sich an diesem Tag die Mitglieder der “Sinduka Cocoba Group” um einen runden Tisch versammelt, auf dem ein blauer, mit drei Schlössern gesicherter Metallkasten steht. Nach einem festgelegten Ritual wird die Box entriegelt. Zum Vorschein kommen vier mit Geldscheinen gefüllte Plastikdosen. Sie enthalten das Gesamtvermögen der örtlichen “Naturschutzbank”. Reihum zahlen die Männer und Frauen sogenannte Anteile von jeweils 4000 Tansania-Schilling ein (etwa zwei Euro). Dann werden Schulden getilgt und Auszahlungen getätigt.

    An jedem Samstag kommen die Mitglieder der Bank zusammen. Der Sinn der Geldschieberei: Die Dorfbewohner vom Stamm der Ikoma legen zusammen, um ihren Mitbürgern später Mikrokredite gewähren oder selbst welche in Anspruch nehmen zu können. Das Geld investieren sie in Projekte, die ihnen den Lebensunterhalt sichern. Einzige Bedingung für die Finanzspritze: Die Natur darf durch die Unternehmungen nicht beeinträchtigt werden.

    Agnes Marongoli beispielsweise hat mithilfe der Kredite gemeinsam mit ihrem Mann Maro ein kleines Kulturzentrum aufgebaut. Vor einer von ihnen errichteten traditionellen Hütte führt eine Tanzgruppe den “Singori” auf, einen Erntedanktanz. Touristen kommen hierher, um Kunsthandwerk zu kaufen und sich die uralten Tiermythen der Ikoma anzuhören. Zusätzlich verkaufen die Marongolis Honig an die Hotels der Gegend – auch die Bienenstöcke haben sie mit Mikrokrediten finanziert.

    “Wir waren Jäger”, sagt Marongoli, “jetzt profitieren wir von den Touristen, die in unsere Läden kommen.” Das Geschäft lohnt sich für sie, die nie eine Ausbildung bekommen hat: Ihre acht Kinder kann sie nun auf die Schule schicken.

    Die Gemeinden rund um Nyichoka haben ihr gesamtes Land zum Wildtier-Schutzgebiet umgewidmet. Bewusst verzichten sie auf Ackerbau, Jagd und Viehzucht. Das Gebiet grenzt direkt an den Nationalpark und ist eine Art Wildnis-Pufferzone. Die Tiere profitieren von der Erweiterung ihres Lebensraums. Gleichzeitig können die Gemeinden ihr Land direkt an Tourismusunternehmen verpachten. Acht Luxuszeltlager für Touristen sind in der Gegend entstanden.

    Im vergangenen Jahr sei dadurch rund eine halbe Million US-Dollar in die Gemeindekassen gespült worden, berichtet Masegeri Rurai, der die “Ikona Wildlife Management Area” für die ZGF betreut.

    Vom Tourismus im Nationalpark selbst profitiert die lokale Bevölkerung jedoch kaum. Mit den Gewinnen finanziert die Tanapa vor allem den Unterhalt der anderen 15 Nationalparks in Tansania, die kaum Einnahmen haben.

    Naturschutz ist ein teures Geschäft. Und der Tourismus muss ihn finanzieren. Doch wie ist die Balance zu halten? Im Massai-Mara-Schutzgebiet in Kenia stehen die Geländewagen in der Hauptsaison in langen Schlangen vor jedem Löwenrudel. Im Vergleich dazu wirkt die Serengeti menschenleer. Und das ist so gewollt.

    Zurück in Seronera wartet schon Tanapa-Mitarbeiter Godson Kimaro, Chef der Tourismusabteilung der Serengeti. “Wir wollen mehr Gäste hier haben”, sagt Kimaro, “aber gleichzeitig muss der Tourismus nachhaltig bleiben”. Rund 2700 Betten in etwa 120 Safari-Camps gibt es im gesamten Park. Kimaro plant etwa 550 zusätzliche Betten für die nächsten Jahre. Das muss dann aber auch reichen.

    Gleichzeitig will er das Angebot für die Gäste attraktiver machen. Neben den traditionellen “Game Drives” gibt es heute schon Heißluftballonfahrten. Spezielle Kurse für Tierfotografie, mehrtägige Wandertouren oder Dinnerpartys in der Wildnis schweben Kimaro vor.

    Für so viel Exklusivität muss man ordentlich zahlen: Schon der Eintritt in den Park kostet 60 US-Dollar, pro Tag. Dazu kommt die Übernachtung, die schon in den Safari-Zeltlagern 500 US-Dollar kosten kann. Wer ein echtes Dach über dem Kopf vorzieht, zahlt leicht das Doppelte.

    Fast ausschließlich aus Übersee sind daher die Gäste der Four Seasons Safari Lodge Serengeti, einer Hotelanlage nördlich von Seronera. Von der breiten Terrasse mit ihren edlen Sitzecken aus geht der Blick auf einen azurblau schimmernden Swimmingpool. Unterhalb des Beckens und kaum zehn Meter dahinter befindet sich ein künstlich angelegtes Wasserloch, das sich aus dem geklärten Brauchwasser des Hotels speist.

    An diesem Abend ist eine komplette Elefantenherde an der Tränke erschienen, dazu Impalas und eine Gruppe von Kaffernbüffeln. In der Ferne ziehen Giraffen. Langsam senkt sich die Sonne. Kellner reichen eisgekühlte Getränke. Ein warmer Wind umfächelt die Touristen. Es ist das perfekte Out-of-Africa-Abziehbild inklusive der Schirmakazien, die sich gegen den Himmel abzeichnen.

    Vielleicht ist genau dies das Schicksal der Wildnis: dass sie sich nur als kitschige Postkarte erhalten lässt, als ein Ort temporärer Zivilisationsflucht.

    “Die Natur aber bleibt ewig wichtig für uns”, schrieb Grzimek in seinem Serengeti-Buch. Politische Sorgen hingegen führten dann nur noch “ein Buchstabenleben” in Geschichtsbüchern. “Aber ob dann noch Gnus über die Steppen stampfen und nachts Leoparden brüllen, das wird den Menschen immer noch etwas bedeuten.”

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    [box]Wenn Bernhard Grzimek (1909 bis 1987), der damalige Direktordes Frankfurter Zoos, “Ein Platz für Tiere” moderierte, schauten in den Sechziger- und Siebzigerjahren Millionen zu. Grzimek war scharfzüngiger Tierschützer, Enzyklopädist (“Grzimeks Tierleben”) und Regisseur. Sein Film “Serengeti darf nicht sterben” verschaffte ihm Weltruhm.[/box]

  • Schiff versenkt

    Kommentar: Die illegale Ausbeutung der Meere muss endlich beendet werden.

    Von Philip Bethge, SPIEGEL 16/2015

    Highnoon auf dem Ozean: Vor Westafrika versank vorigen Montag ein Fischtrawler, der monatelang von Booten der Organisation Sea Shepherd verfolgt worden war. Die Ökoaktivisten sagen, der Kapitän habe den Trawler namens “Thunder” absich tlich versenkt, um “Beweise zu beseitigen”. Denn die “Thunder” soll auf illegalem Fischzug gewesen sein.

    Der Vorfall verweist auf ein weltweites Problem: Rund 25 Millionen Tonnen Fisch – bis zu einem Drittel des weltweiten Fangs – werden unrechtmäßig angelandet. Es ist empörend, dass dieses Problem überhaupt noch existiert. Illegaler Fischfang ist nur möglich, weil es den Trawlern immer noch viel zu leicht gemacht wird, die Regeln zu brechen – indem sie unter Billigflagge fahren oder zum Anlanden ihrer Beute Häfen in Entwicklungsländern anlaufen, in denen die Kontrollen lax und die Beamten korrupt sind.

    Illegaler Fischfang ist nur deshalb lukrativ, weil jene Länder, in denen der Fisch verkauft wird, nicht ausreichend die Herkunft der Fänge hinterfragen.

    Die EU muss mit gutem Beispiel vorangehen und den Fischhandel zu einem genaueren Herkunftsnachweis der Ware zwingen. Auch der Betrieb von Trawlern unter Billigflagge darf für Unternehmen, die Fisch bei uns handeln wollen, nicht mehr akzeptiert werden. Sonst geht der Raubbau weiter, der unter anderem dazu führt, dass Fischereiexperten die Fangquoten falsch festlegen, weil sie die illegalen Fänge nicht berücksichtigen.

    Für ihre Verfolgungsjagd auf hoher See ist den Ökoaktivisten kein Vorwurf zu machen – im Gegenteil. Dankenswerterweise haben sie eine Fischindustrie bloßgestellt, die sich nicht an die Regeln hält. Und sie haben den Raubfischern in Seenot geholfen – und das, obwohl sie diese wohl am liebsten in die ewigen Fischgründe geschickt hätten. Stattdessen nahmen sie die Schiffbrüchigen an Bord und übergaben sie den Behörden.

  • Der Brokkoli gehört uns allen

    Von Philip Bethge, DER SPIEGEL 44/2014

    Dürfen Pflanzen und Tiere patentiert werden? In Europa ist das stark eingeschränkt. Patente würden nicht erteilt für “Pflanzensorten oder Tierrassen” sowie “im Wesentlichen biologische” Züchtungsverfahren, heißt es im Europäischen Patentübereinkommen. Doch das Europäische Patentamt (EPA) scheint die Regeln nicht ernst zu nehmen. Etwa 2400 Patente auf Pflanzen und 1400 Patente auf Tiere seien schon erteilt worden, kritisiert die Initiative No Patents on Seeds im Vorfeld einer Anhörung vor der Großen Beschwerdekammer des EPA. Aktuell will sich die Firma Plant Bioscience konventionell gezüchteten Brokkoli als Erfindung schützen lassen, das israelische Landwirtschaftsministerium Tomaten. Und es ist zu befürchten, dass die Patente am Ende bestätigt werden.

    Möglich ist dies, weil die Industrie Übung darin hat, auf geschickte Weise rechtliche Schlupflöcher auszunutzen. Eine bestimmte Apfelsorte mit erhöhtem Vitamingehalt beispielsweise lässt sich in Europa nicht patentieren. Wenn indes in der Patentschrift allgemein von vitaminangereicherten Pflanzen die Rede ist (also nicht von einer einzelnen Sorte), lassen die EPA-Beamten oftmals mit sich reden. Die Patentierung hänge “in vielen Fällen” davon ab, “wie geschickt die Ansprüche formuliert werden”, gibt die Technische Beschwerdekammer im EPA offen zu. Ein Armutszeugnis.

    Dabei ist es brisant, wenn Lebewesen geistiges Eigentum von Firmen werden. Der Zugang zur genetischen Vielfalt muss öffentlich bleiben. Sonst können unabhängige Forscher und Züchter nicht mehr uneingeschränkt nach neuen Sorten fahnden, um die Nahrungsmittelversorgung für eine wachsende Weltbevölkerung sicherzustellen. Sonst geraten Bauern in Abhängigkeiten, die sie sich gerade in Entwicklungsländern nicht leisten können. Natürlich müssen Saatgutfirmen Geld verdienen können mit ihren Innovationen. Doch Patente sind dafür der falsche Weg – vor allem, wenn sie mithilfe juristischer Wortklauberei zustande kommen.

    Die Patentierung von Leben ist eine ethische Grundsatzfrage, die nicht in Hinterzimmern des EPA entschieden werden darf. Nur in einer offenen gesellschaftlichen Diskussion kann geklärt werden, wem die genetische Vielfalt gehört.

  • Satter als satt

    Dhanshakti-Hirse
    Dhanshakti-Hirse

    Fast jeder dritte Mensch ist mangelernährt. Doch nun bahnt sich eine neue Grüne Revolution an: Vielfalt auf dem Acker und Sortenzucht ohne Gentechnik sollen den Welthunger besiegen. Ein Großprojekt in Indien weist den Weg.

    Von Philip Bethge

    Die Hirse heißt “Dhanshakti”, zu Deutsch “Reichtum und Stärke”. Zumindest den Reichtum wagt Devran Mankar nicht mehr zu erwarten in seinem Leben. Ein Segen ist das Getreide trotzdem für den Kleinbauern: Es hält seine Familie satt und gesund.

    “Seit wir diese Hirse essen, sind die Kinder seltener krank”, schwärmt Mankar, ein schmaler Mann mit grauem Bart, zerschlissenem Gewand und Goldrandbrille.

    Sehr nahrhaft sei das Getreide, berichtet der Inder, während Enkelin Kavya auf seinem Schoß herumturnt. Und lecker sei es noch dazu: “Sogar dem Vieh schmeckt die Hirse.”

    Mankars Feld am Rande des Dorfs Vadgaon Kashimbe im Bundesstaat Maharashtra ist kaum 100 Meter breit und 40 Meter lang. In einem Monat wird das Getreide reif sein. Wenn kein Hagelsturm kommt – und Ganesha, der Elefantengott, möge es verhindern -, werde er dann etwa 350 Kilogramm Hirse ernten, sagt der Bauer, genug für ein halbes Jahr.

    Mankar und seine Familie nehmen teil an einem groß angelegten Ernährungsexperiment im Westen Indiens. Als einer von rund 30 000 Kleinbauern pflanzt der Inder Dhanshakti-Perlhirse an, ein Getreide, das es in sich hat: In den Körnern steckt ungewöhnlich viel Eisen und Zink. Indische Forscher haben der Pflanze diesen hohen Gehalt an Spurenelementen angezüchtet. “Bioverstärkung” nennen sie das.

    Das Ziel des von der Ernährungshilfeorganisation Harvest Plus initiierten Projekts: Bauern wie Mankar und ihre Familien sollen nicht mehr Hunger leiden.

    Die Dhanshakti-Hirse ist Teil einer neuen Grünen Revolution, mit der Bioforscher und Ernährungsexperten die Erde von Hunger und Mangelernährung befreien wollen. Immer noch werden weltweit 870 Millionen Menschen nicht satt. Und fast jeder Dritte leidet unter dem sogenannten versteckten Hunger, einem Mangel an Vitaminen und Spurenelementen wie Zink, Eisen oder Jod.

    Die Folgen sind vor allem für Mütter und Kinder dramatisch: Frauen mit Eisenmangel sterben öfter im Kindbett, haben mehr Frühgeburten und Menstruationsprobleme. Mangelernährte Kinder können erblinden oder leiden unter Wachstumsstörungen. Sie sind zeitlebens anfälliger für Infektionen und lernen schlecht, weil sich ihr Gehirn nicht richtig entwickelt.

    “Diese Kinder werden von Geburt an ihrer Zukunft beraubt”, sagt der indische Agrarwissenschaftler Monkombu Swaminathan, der seit mehr als 60 Jahren für das “fundamentale Menschenrecht” auf Sattsein arbeitet. Um das Hungerproblem endlich zu lösen, fordert Swaminathan zusammen mit anderen Ernährungsexperten eine neue Agrarwende. Nicht industrielle Hightechlandwirtschaft, sondern naturnaher Landbau, intelligente Pflanzenzucht und die Rückbesinnung auf alte Sorten sollen den Hunger ausrotten.

    Die Welt hat genug zu essen. Nur: Für die Armen, die sich überwiegend von Getreide ernähren, ist es das falsche Essen. Mais, Weizen, Reis, die vor allem auf Ertrag und nicht auf Nährstoffgehalt gezüchteten Sorten der industriellen Landwirtschaft, können die Ärmsten nicht ausreichend versorgen. Denn sich satt zu essen genügt nicht, um gesund zu bleiben. Nährstoffe und Spurenelemente sind mindestens so wichtig wie Kalorien.

    Ernährungssicherheit entstehe durch Vielfalt, sagt Swaminathan und fordert eine nachhaltige “Evergreen”-Revolution. Neue, nahrhaftere und klimatisch besser angepasste Getreidesorten müssten her. “Wir müssen Landwirtschaft wieder mit Ernährung verheiraten; beides war viel zu lange getrennt”, so der Forscher.

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    Swaminathan, 88, gilt als Vater der indischen Grünen Revolution in den Sechzigerjahren. Die Wände seines Büros in der Großstadt Chennai an der Ostküste des Landes hängen voll mit Ehrungen und Urkunden. “Indias Greatest Global Living Legend” steht auf einer. 1987 erhielt er den Uno-Welternährungspreis.

    Swaminathan schuf damals Reis- und Weizensorten, die kleiner waren als gewohnt, dadurch jedoch weit ertragreicher; zudem arbeitete er mit mischerbigen Pflanzen, die bis zu doppelt so produktiv sind wie ihre Elterngeneration.

    “Der Erfolg der Grünen Revolution war gewaltig”, berichtet Swaminathan. Als Jugendlicher habe er noch den “Bengalischen Hunger” erlebt, der Mitte der Vierzigerjahre Millionen Inder dahinraffte. “Damals wuchs auf einem Hektar Land weniger als eine Tonne Getreide”, sagt Swaminathan. Inzwischen habe sich der Hektarertrag mehr als verdreifacht.

    Doch zu welchem Preis? Die neuen Hochleistungssorten garantierten zwar hohe Ernteerträge, laugten jedoch auch die Böden aus und verbrauchten viel zu viel Wasser. Immer mehr Dünger und Pestizide waren nötig. Viele Kleinbauern verloren alles, weil sie erst investierten und dann ihre Ernte nicht mit Gewinn verkaufen konnten. Den Anbau traditioneller Brotgetreide vernachlässigten sie.

    “Früher ernährten sich die Bauern von 200 bis 300 Feldfrüchten”, sagt Swaminathan. Heute gebe es nur noch “vier oder fünf wichtige Sorten”. “Die Grüne Revolution”, klagt der Forscher, “hat den Hunger nicht ausgemerzt.”

    In Indien ist das Problem besonders dringlich. An die 250 Millionen Menschen, ein Fünftel der Bevölkerung, sind unterernährt. 50 bis 70 Prozent der Kinder unter fünf Jahren und die Hälfte aller Frauen leiden an Eisenmangel. Fast die Hälfte aller Kinder ist körperlich unterentwickelt oder sogar verkrüppelt, weil sie chronisch unter- und mangelernährt sind.

    Vor allem im Bundesstaat Maharashtra ist die Lage prekär. Am frühen Morgen geht es zusammen mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Bushana Karandikar aus der Bhagwhan-Hochburg Pune (ehemals Poona) hinaus aufs Land. Die Inderin treibt das Dhanshakti-Projekt für die Organisation Harvest Plus voran. “Die Mangelernährung ist die traurige Seite des indischen Aufschwungs”, erzählt sie während der Fahrt. “Es ist sehr überraschend, aber wir teilen das Problem mit den Ländern in Schwarzafrika, obwohl deren Pro-Kopf-Einkommen viel geringer ist.”

    Jetzt im Frühjahr ist Maharashtra grün. Mit seinen üppigen Feldern links und rechts der Straße und den Obstplantagen wirkt das Land fruchtbar. Zu besichtigen ist hier “Indiens Rätsel”, wie Forscher Swaminathan es nennt: “grüne Berge und hungrige Millionen”.

    Im Ort Ghodegaon wird schnell deutlich, woran es mangelt. An einer unbefestigten Straße, vor der 15-Betten-Klinik des Ortes, warten Männer, Kinder, vor allem aber junge Frauen in bunten Saris. Die Schuhe bleiben vor der Tür, an den Wänden hängen Götterporträts, umrankt von Blumenketten.

    Der Arzt Rajneesh Potnis empfängt im ersten Stock, reicht würzigen Kaffee und Süßes. 25 Jahre arbeitet Potnis schon hier. Die Studienkollegen hielten ihn für verrückt, als er nach Ghodegaon ging. Doch Potnis wollte helfen. Nun berät er stillende Mütter, hilft Kindern auf die Welt, behandelt Rachitis, Nachtblindheit und Blutarmut.

    “Den Frauen geht es am schlechtesten”, sagt der Arzt, “sie essen das, was übrig bleibt, und arbeiten zugleich am härtesten.” In der Folge erlitten sie Früh- und Totgeburten, Infektionen, Schwächeanfälle. Am schlimmsten seien die ethnischen Minderheiten betroffen, die am Rand der Gesellschaft leben. “Sie kommen erst, wenn es gar nicht mehr anders geht.”

    Potnis verteilt Mineral- und Vitaminpillen, die der indische Staat subventioniert; er rät den Familien zu vielseitiger Ernährung. Oft vergebens, erzählt der Arzt. “Es ist so einfach, den Leuten zu sagen: Esst mehr Hülsenfrüchte, mehr Gemüse und Eier – die meisten können sich das alles aber gar nicht leisten.”

    Hier kommt die bioverstärkte Hirse ins Spiel: Die Bauern bauen in der Gegend schon immer Hirse an. Warum dann also nicht einfach die traditionelle Hirsesorte durch die Dhanshakti-Hirse ersetzen? “Dann bekommen die Leute ihre Mineralien aus dem Brot, das sie ohnehin jeden Tag essen”, schwärmt Potnis.

    So wie im nahen Ort Vadgaon Kashimbe bei der fünfköpfigen Familie von Ramu Dahine: Schwiegertochter Meena backt heute das Bhakri, das traditionelle Fladenbrot aus Hirse. Im roten Sari kauert sie auf dem Boden vor dem kleinen wellblechgedeckten Steinhaus. Die Frau nimmt Hirsemehl und Wasser, knetet den Teig, legt den Fladen in eine Pfanne und bläst die Glut eines Holzfeuerchens mit einem langen Blasrohr an, bis die Flammen züngeln.

    Zweimal am Tag essen die Dahines das Brot. Beilagen gibt es kaum. Die Hirse habe der Saatguthändler empfohlen, berichtet der Bauer. Dass das Getreide mehr Eisen enthält, weiß er gar nicht. Und doch ist ihm aufgefallen, dass die Familie gesünder durch die letzte Regenzeit kam.

    Und die Hirse hat einen weiteren Vorteil: Weil sie keine Hybridsorte ist, kann der Bauer einen Teil der Ernte für die Aussaat in der nächsten Saison verwenden.

    “Für die Ärmsten der Armen ist diese Hirse eine große Hoffnung”, sagt Bhushana Karandikar. Zumal das Getreide wirkt: Schweizer Forscher zeigten, dass Dhanshakti-Hirse bei Frauen den Eisengehalt im Blut deutlich erhöhte. Indische Forscher belegten, dass schon täglich 100 Gramm der Hirse den Eisenbedarf von Kindern komplett abdecken können.

    Für die Verfechter der neuen, sanften Grünen Revolution ist das ein weiterer Erfolg auf ihrem Feldzug gegen den Hunger. Weltweit arbeiten Ernährungsspezialisten an nahrhafteren Getreide- und Gemüsesorten. In Brasilien etwa entwickelt die Forschungsorganisation Embrapa bioverstärkte Bohnen und Kürbisse sowie bioverstärkten Maniok. In Uganda und Mosambik pflanzen Bauern eine Provitamin-A-reiche Süßkartoffel an. In Ruanda essen mehr als 500 000 Familien mit Eisen angereicherte Bohnen. In Indien soll es neben der Dhanshakti-Hirse bald Reis und Weizen mit besonders hohem Zinkgehalt geben.

    Etwa sieben Millionen Männer, Frauen und Kinder habe man bereits erreicht, sagt Howarth Bouis, Chef des Harvest-Plus-Programms. Bis 2030 sollen eine Milliarde Menschen von bioverstärktem Getreide profitieren. Dass der Plan aufgehen könnte, liegt auch daran, dass Bouis schon früh entschied, die neuen Sorten ausschließlich konventionell zu züchten. “Wir haben uns gegen Gentechnik entschieden, weil wir der Kontroverse aus dem Weg gehen wollten”, sagt er. Zu gut erinnert sich der Harvest-Plus-Chef an den Streit um den sogenannten Goldenen Reis.

    Das schon seit 1992 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich entwickelte transgene Gewächs enthält fast doppelt so viel Betacarotin, die Vorstufe von Vitamin A, wie normaler Reis. Trotzdem wurde es bis heute nirgendwo auf der Welt zugelassen. Der öffentliche Widerstand gegen die Gentechnik ist zu groß.

    Ohnehin ist gentechnische Trickserei in vielen Fällen überflüssig. Denn häufig gibt es natürliche Sorten, deren Körner die erwünschten Vitamine oder Nährstoffe bereits enthalten. Gerade Reis ist dafür ein gutes Beispiel: Etwa 100 000 Sorten existieren auf der Erde. “Da lässt sich fast jede Eigenschaft finden, die man sich vorstellen kann”, sagt Swaminathan. In den Labors seiner M. S. Swaminathan Research Foundation (MSSRF) in Chennai tüfteln Forscher zum Beispiel an Reis mit hohem Zinkgehalt. Tausende Reislinien haben die Biologen dafür analysiert. Schließlich fand sich ein gutes Dutzend besonders zinkhaltiger Sorten. Diese werden nun mit solchen Sorten gekreuzt, die hohen Ertrag versprechen.

    Swaminathan hält allerdings auch den Hightechweg für geeignet, den Hungernden zu helfen. “Ich werde Gentechnik weder feiern noch rundweg ablehnen”, sagt er. “Es ist wichtig, alle Werkzeuge zu nutzen, traditionelles Wissen und moderne Wissenschaft.”

    Der Eisengehalt beispielsweise lasse sich in Reis nur schwer mithilfe konventioneller Zucht erhöhen. Stattdessen versuchen es die Forscher in der Petrischale. “Wir haben Gene der Mangrove isoliert und in die Reispflanzen eingeschleust”, erläutert Ganesan Govindan, einer der Biotechnologen an MSSRF. Die transgenen Reiskörner enthalten mehr Eisen. Gleichzeitig sind die Pflanzen salz- und trockentoleranter als zuvor. In zwei bis drei Jahren soll die Sorte marktreif sein.

    Gerade solche Hightechlösungen sind jedoch umstritten. In Indiens Hauptstadt Neu-Delhi lebt Vandana Shiva, eine profilierte Gegnerin der modernen Agrartechnik. Das Büro ihrer Organisation Navdanya liegt in Hauz Khas, einem der wohlhabenderen Stadtviertel. Blumen sind auf einem Glastisch hergerichtet. In der Ecke stehen Tonvasen mit Getreidegarben.

    Shiva, im wallenden Gewand und mit großem Bindi auf der Stirn, ist eine beeindruckende Erscheinung, gestählt durch den jahrzehntelangen, zähen Kampf mit dem Establishment. Die Bürgerrechtlerin wird nicht müde, die Saatgutkonzerne zu geißeln. “Eine global operierende Industrie versucht mit allen Mitteln, die Welt von ihren Produkten abhängig zu machen”, schimpft sie. Bauern, die einmal umgestiegen seien, würden ihr traditionelles Saatgut aufgeben und müssten die kommerziellen, oft mit Lizenzgebühren belegten Sorten fortan immer und immer wieder kaufen.

    “Diese Art von Landwirtschaft hat in Indien 25 000 Bauern in den Selbstmord getrieben, weil sie ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten”, sagt Shiva. Selbst von den bioverstärkten Sorten hält sie nichts. “Die Züchter dieser Pflanzen konzentrieren sich auf jeweils einen einzigen Nährstoff”, kritisiert sie, “dabei braucht der Körper alle diese Spurenelemente.”

    Statt solcher “Monokulturen” fordert Shiva die Rückkehr zur Vielfalt auf dem Acker. “Die meisten unserer traditionellen Sorten sind voll mit Nährstoffen”, sagt sie. Warum einen Goldenen Reis mit viel Vitamin A erschaffen, wenn Möhren und Kürbis genug davon enthielten? Warum an gentechnisch veränderten Bananen mit hohem Eisengehalt arbeiten, wenn Meerrettich oder Amaranth ohnehin so viel Eisen enthielten?

    Shiva empfiehlt Fruchtfolgen auf dem Acker, Gemüse- und Obstgärten sowie kleine Familienfarmen, deren Hauptziel Ernährung und nicht Gewinnmaximierung ist. 75 000 Bauern hat ihre Organisation seit Ende der Achtzigerjahre im Biolandbau ausgebildet – für Shiva der einzig richtige Weg, den Hunger zu besiegen.

    Doch kann Ökolandbau tatsächlich die Lösung sein? Harvest-Plus-Direktor Bouis hält Shivas Ansatz für naiv. “Wir haben das fundamentale Problem, dass wir zu wenig fruchtbares Land für eine ständig wachsende Bevölkerung haben”, sagt er.

    70 Prozent mehr Kalorien als heute wird die Landwirtschaft 2050 produzieren müssen, um dann 9,6 Milliarden Menschen zu ernähren, prophezeit ein Report des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Diese “Ernährungslücke” könne nur geschlossen werden, sagt Bouis, “wenn die Landwirtschaft noch produktiver wird”.

    Vor Ort in Maharashtra allerdings wird deutlich, dass dafür nicht immer kraftstrotzendes Supergetreide notwendig ist. Einem dritten Bauern aus dem Ort Vadgaon Kashimbe, Santosh Pingle, und seiner Familie geht es sichtbar besser als seinen Nachbarn. Das Haus ist verputzt. Kühe und Ziegen versorgen die Familie mit Milch. Manchmal gibt es sogar Huhn vom Markt. Pingles Erfolgsrezept: Der 38-Jährige hat mehr gemacht aus seinem Land.

    Auf einem halben Hektar pflanzt der Bauer die eisenreiche Dhanshakti-Hirse für den Eigenbedarf der fünfköpfigen Familie an. Die andere Hälfte seines Ackerlands ist mit Tomaten und besonders ertragreicher Hybridhirse bestellt. Beides verkaufen die Pingles auf dem Markt.

    Gleichzeitig gedeihen im Hausgarten eiweißreiche Bohnen und anderes Gemüse. Zitronen, Kokosnüsse und Mangos erntet Ehefrau Jayashree mit ihren Töchtern mehrfach im Jahr.

    “Reichtum und Stärke” – die Pingles sind inzwischen auf einem guten Weg dahin. Und genug zu essen haben sie allemal.

  • Lieber naiv

    Von Philip Bethge, DER SPIEGEL 42/2014

    Mit großer Gleichgültigkeit nimmt die Welt die Hiobsbotschaften der 12. Biodiversitätskonferenz im südkoreanischen Pyeongchang zur Kenntnis: Die Vernichtung der Vielfalt geht fast ungebremst weiter. Keinesfalls wird es gelingen, wie geplant bis 2020 den Verlust an Artenvielfalt zu stoppen. Innerhalb von nur 40 Jahren sind die Wirbeltierpopulationen der Erde um die Hälfte geschrumpft, warnt der WWF. Die Versauerung der Ozeane bedroht das gesamte Meeresökosystem. Doch dringlich findet das offenbar niemand. Ein fataler Fehler. Denn der Verlust der Biodiversität ist die einzige wirklich irreversible globale Umweltveränderung. Und ohne Vielfalt stirbt auf lange Sicht auch der Mensch.

    Beispiel Ernährung: China hat jetzt schon 90 Prozent weniger Weizensorten als noch vor 60 Jahren, Indien 90 Prozent weniger Reissorten. Mangelt es jedoch an genetischen Varianten, können Pflanzen Naturkatastrophen oder Krankheiten nicht überstehen. Ganze Landwirtschaftszweige sind zudem bedroht, wenn Käfer, Bienen oder Schmetterlinge fehlen, die mehr als drei Viertel der wichtigsten Nutzpflanzen bestäuben, von Kürbissen über Äpfel bis zum Klee für die Nutztiere. Ob es neue Wirkstoffe für die Medizin sind, Enzyme und Mikroorganismen für die Biotechnologie oder neue Materialien wie etwa Spinnenseide – oft ist Vielfalt der Schlüssel zum Fortschritt. Und intakte Ökosysteme wirken auch als Ganzes. So wie in New York, wo die Catskill Mountains sauberes Trinkwasser bereitstellen. Oder auf den Philippinen, wo nur intakte Mangrovenwälder die Küste vor Tsunamis schützen können. Dabei kommt es auf jede Art an. Denn Ökosysteme sind wie Netze. Sie reißen, wenn zu viele Maschen fehlen.

    Der Zyniker zuckt mit den Schultern. Dann soll sich der Mensch eben ausrotten. Die Natur wird überdauern – in welcher Form auch immer. Ja, auch das ist richtig. Ich will aber kein Zyniker sein. Lieber schlage ich mich auf die Seite der vermeintlich Naiven. Ich will daran glauben, dass wir weitsichtiger, schlauer sind, dass wir noch längst nicht unser Bestes geben. Und ich will noch nicht einmal von der Hoffnung lassen, dass wir die Vielfalt aus einem ganz einfachen Grund erhalten werden: um ihrer selbst willen.

  • Die Qual der Wale

    Von Philip Bethge, DER SPIEGEL 38/2014

    Vor einigen Wochen bereiste ich die Ostküste der USA. Auf der Insel Nantucket, einst Hochburg des Walfangs, erfuhr ich im örtlichen Museum, dass die Indianer die Tiere dort vor 400 Jahren mit kleinen Booten noch direkt vom Strand aus jagen konnten – so viele Wale gab es damals im Atlantik. Dann fuhren wir zum Whale-Watching hinaus aufs Meer, und ich erlebte, wie drei Buckelwale nebeneinander unter unserem Schiff hindurchtauchten – ein unvergesslicher, magischer Moment.

    Die Meeressäuger lassen uns nicht kalt. Diese Wesen sind intelligent, leidensfähig und hochgradig sozial. Das oftmals frustrierende Ringen um den Schutz dieser Tiere darf deshalb nicht aufhören – das Engagement der Artenschützer auf der Tagung der “International Whaling Commission” diese Woche in Slowenien ist sogar wichtiger denn je. Island jagt immer mehr bedrohte Finnwale und exportiert das Fleisch nach Japan. Norwegen vermeldet steigende Zahlen getöteter Zwergwale. Die Grönländer jagen weiter und locken “abenteuerlustige Gourmets” auf ihrer Tourismus-Website mit “Mattak”, Walspeck, ins Land. Und Japan will weiter unter dem Deckmantel der Forschung Walfang betreiben. All das untergräbt das kommerzielle Walfangmoratorium und macht wütend.

    Wer etwas dagegen tun will, kauft keinen Fisch mehr von Firmen wie der isländischen HB Grandi, die eng mit dem Walfang verbunden ist. Auch den Besuch von Delfinarien sollten wir uns sparen. Die Delfinschlächter in der Bucht von Taiji in Japan richten in diesem Jahr auch deshalb wieder ein Massaker an, weil sie einige wenige der Tiere für viel Geld an Zoos verkaufen können. Jedes Delfinarium, auch das in Duisburg oder Nürnberg, befördert eine Kultur, die Meeressäuger zu Clowns macht. Das Fangen und Töten von Walen und Delfinen passt nicht mehr in die Zeit. Sie endlich in Ruhe zu lassen würde uns Menschen ehren.

  • Miracle Crop: India’s Quest to End World Hunger

    Miracle Crop: India’s Quest to End World Hunger

    Over one third of humanity is undernourished. Now a group of scientists are experimenting with specially-bred crops, and hoping to launch a new Green Revolution — but controversy is brewing.

    By Philip Bethge

    It may not make his family wealthy, but Devran Mankar is still grateful for the pearl millet variety called Dhanshakti (meaning “prosperity and strength”) he has recently begun growing in his small field in the state of Maharashtra, in western India. “Since eating this pearl millet, the children are rarely ill,” raves Mankar, a slim man with a gray beard, worn clothing and gold-rimmed glasses.

    Mankar and his family are participating in a large-scale nutrition experiment. He is one of about 30,000 small farmers growing the variety, which has unusually high levels of iron and zinc — Indian researchers bred the plant to contain large amounts of these elements in a process they call “biofortification.” The grain is very nutritional,” says the Indian farmer, as his granddaughter Kavya jumps up and down in his lap. It’s also delicious, he adds. “Even the cattle like the pearl millet.”

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  • Hydropower Struggle: Dams Threaten Europe’s Last Wild Rivers

    Europe’s last remaining wild rivers flow through the Balkans, providing stunning scenery and habitat to myriad plants and animals. But hundreds of dam projects threaten to do irreparable harm to the region’s unique biospheres — to provide much needed electricity to the people who live there.

    By Philip Bethge

    How did Europe’s rivers look before they were tamed — back when they were allowed to flow freely through the beds they spent centuries carving out?

    Most of the Continent’s waterways, like the Elbe, the Rhine and the Danube, have long since been hemmed in. But examples of Europe’s largely vanished wilderness remain. Such as the Vjosë, which flows unfettered through its valley in southwestern Albania, splitting off into tributaries that once again flow together in a constant game of give-and-take with solid ground.

    “With every flood, the Vjosë shifts its course,” says Ulrich Eichelmann, a conservationist with the organization RiverWatch, as he looks across to the narrow ribbon of alluvial forest that clings to the side of the valley. “The river fills the entire valley,” says the 52-year-old. “Such a thing in Europe can only be found here, in the Balkans.” Then he pauses. On the opposite shore, a cormorant takes flight.

    The Vjosë: 270 kilometers (168 miles) of river landscape, from the Pindus Mountains of Greece all the way down to the Adriatic Sea. Not a single dam disturbs the water’s course. No concrete bed directs its flow. And every pebble tells a story, says Eichelmann — of pristine mountain enclaves, of waterfalls, gorges and lakes.

    The ‘Blue Heart of Europe’

    The Vjosë is not alone. Several crystal clear, untamed rivers rush through many countries in the region. “The blue heart of Europe beats in the Balkans,” says Eichelmann, who, together with environmental organization EuroNatur, works to preserve these natural water systems….

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