Von Philip Bethge, SPIEGEL 31/2003
Johann Sebastian Bach wird überdauern. Selbst wenn ewiges Eis die Erde unter sich begraben sollte oder die Sonne ihren Planeten verbrennt – dem C-Dur-Präludium aus dem zweiten Teil des “Wohltemperierten Klaviers” des Meisters wird all das nichts anhaben.
Das Musikstück wird auch nach dem Ende des Planeten Erde noch an Bord der “Voyager”-Raumsonden auf der Reise zu fernen Welten sein. Gepresst auf eine vergoldete Kupfer-Schallplatte, entfernt es sich derzeit minütlich um gut tausend Kilometer von der Erde.
Außer der Bach-Komposition finden sich 26 weitere Musikstücke sowie Grußworte in 55 Sprachen auf dem Tonträger, der im All Jahrmilliarden überdauern soll. Sogar einen Alu-Plattenspieler samt Gebrauchsanweisung hat die Raumsonde im Gepäck – vorgesehene Laufgeschwindigkeit: 16 2/3 Umdrehungen pro Minute.
Die musikalische Botschaft soll fernen Zivilisationen vom menschlichen Genius künden. Musik, so scheint die Übereinkunft, gehört zur Essenz intelligenten Lebens, zu jenen Dingen, die das Menschsein erst ausmachen.
Was aber sollte ein außerirdischer Empfänger eigentlich mit der akustischen Botschaft anfangen? Die Abbildungen vom Planeten Erde und dem Menschen – auch sie an Bord der Voyager-Sonden – erlauben ihm, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie die Absender der geheimnisvollen Botschaft aussehen und woher sie stammen.
Auch Worten und mathematischen Formeln lässt sich ein Sinn entlocken, wenn erst einmal der dazu notwendige Code geknackt ist. Aber einem Präludium? Muss es nicht jedem Nicht-Menschen nur als Krach erscheinen?
Musik ist die wohl merkwürdigste Kunstgattung, die der Mensch je hervorgebracht hat. Anders als Malerei, Poesie oder Bildhauerei stellt sie die Welt nicht dar. Ein Akkord bedeutet nichts, eine Melodie hat keinen Sinn.
In ihrem Kern ist Musik reine Mathematik – berechenbare Luftschwingungen, deren Frequenzen sich nach physikalischen Regeln überlagern. Und doch geschieht eine Art Wunder: Mathematik verwandelt sich in Gefühl.
Musik kann zutiefst berühren. Kaum ein Mensch ist immun gegen ihre Magie. So sinnentleert die Aneinanderreihung von Tönen scheint, keine Kultur mag darauf verzichten. Ob die Gamelan-Musik Indonesiens, die doppeltönigen Kehlgesänge der Nomaden im sibirischen Tuva oder der wundermächtige Sopran einer Maria Callas: Musik bewegt, provoziert, entzückt.
Doch wie ist das möglich? Warum fährt ein forscher Rhythmus dem Mensch in alle Glieder? Wieso weckt der eine Akkord Wehmut und Sehnsucht, der andere hingegen Triumphgefühle? Wozu dient das ganze Flöten, Trommeln und Tirilieren?
Und schließlich: Was genau ist Musik eigentlich? Weshalb besteht der überraschende Zusammenhang zwischen Zahlen und Klängen? Und wann und warum hat der Mensch damit begonnen zu musizieren?
Mit den Methoden der modernen Wissenschaften gehen Psychologen, Hirnforscher, Mathematiker und Musikwissenschaftler dem Phänomen nun auf den Grund. Musik, so zeigt sich dabei, ist weit mehr als zweckfreier Müßiggang. Immer deutlicher offenbaren die Befunde, wie eng sie mit dem Wesen des Menschen und seiner Lebenswelt verbunden ist:
* Musik ist Kultur gewordene Natur. Der Klang eines hohlen Baumstammes, das Pfeifen des Windes, selbst das Geräusch, das ein fallender Stein verursacht, legen die Grundlagen dafür, wie der Mensch Musik wahrnimmt und interpretiert.
* Melodien und Rhythmen wirken auf genau jene Hirnregionen, die für die Verarbeitung von Trauer, Freude und Sehnsucht zuständig sind; Musik, so zeigt sich damit, öffnet das Tor in die Welt der Gefühle.
* Schon sehr früh ist das menschliche Gehirn auf Musikalität programmiert; selbst wenige Monate alte Babys können bereits harmonische von dissonanter Musik unterscheiden.
* Die Wurzeln der Musik reichen bis ins Tierreich zurück; noch ehe der Mensch das erste Wort sprach, war vermutlich Musik die archetypische Ausdrucksform menschlicher Kultur.
–> Geschichte auf Spiegel.de lesen
Seit je rätseln die Denker über die herausragende und intensive Wirkung der Tonkunst. Der Philosoph Immanuel Kant sah sie als Natursprache der Empfindungen. Friedrich Schiller stellte den Musiker als “Seelenmaler” dem Dichter zur Seite. Die ersten Versuche, das Phänomen wissenschaftlich zu erfassen, unternahmen bereits die Griechen.
Seiner Zeit weit voraus, beschrieb der Philosoph Pythagoras um 500 vor Christus als Erster den verblüffenden Zusammenhang zwischen Mathematik und Musik. Mit Hilfe eines so genannten Monochords – einer Art Gitarre mit nur einer einzigen Saite – untersuchte der Denker die Geheimnisse der Tonkunst. Er erkannte, dass sich die grundlegenden Musikintervalle durch einfache Zahlenverhältnisse beschreiben lassen.
Mit einem verschiebbaren Steg teilte Pythagoras die Saite des Monochords beispielsweise im Verhältnis eins zu zwei. Die beiden Saitenabschnitte erklangen fortan im Abstand von genau einer Oktave, dem Grundintervall jeder Musik. Der sein Leben lang nach mathematischer Perfektion forschende Grieche war über die Entdeckungen wohl entzückt: Zu gut passte sie in sein mechanistisches Weltbild, dem zufolge das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben sei.
Noch weitere grundlegende musikalische Intervalle konnte Pythagoras mit Hilfe des Monochords erzeugen. So entwickelte er schließlich die erste Tonleiter der Weltgeschichte, die bis heute mit leichten Veränderungen in der westlichen Welt Bestand hat.
Erst im 17. Jahrhundert jedoch – längst waren Notensystem, Mehrstimmigkeit und Harmonik erfunden – gelang es dem französischen Mönch und Mathematiker Marin Mersenne, den Zahlenspielen des Griechen eine physikalische Erklärung zu geben. Mersenne brachte bis zu 40 Meter lange Saiten zum Klingen und zählte ihre Schwingungen. Das Ergebnis: Tatsächlich schwingt eine Oktave stets exakt doppelt so schnell wie der jeweilige Grundton.
Denn nichts anderes als Schwingungen sind die Töne – ein ewiges Hin- und Hertanzen kleinster Luftmoleküle, deren Bewegung erst die Qualität dessen bestimmt, was an die Ohren der Welt dringt.
Wasser rauscht, Steine klackern, Blätter rascheln und Sand knirscht – doch all diese Geräusche sind noch keine Musik. Wie wütend gemachte Bienen sausen die Luftteilchen bei derlei Getöse chaotisch durcheinander. Erst wenn die Luftmoleküle gleichsam in Reih und Glied schwingen, erklingt schließlich ein einzelner Ton (siehe Grafik Seite 138). Natürliche und durch Instrumente erzeugte Töne bestehen dabei meist aus Schwingungen mehrerer Frequenzen, die sich überlagern.
“Tatsächlich addiert jedes Luftmolekül in einem Konzertsaal die Schwingungen aller Instrumente zu einem einzigen wilden Tanz”, beschreibt der amerikanische Musikwissenschaftler Robert Jourdain den unwirklich komplexen Vorgang*. Diesen Tanz zu erfassen und daraus jede einzelne der ursprünglichen Schwingungen herauszufiltern ist die ungeheure Leistung des menschlichen Gehörsinns. Am Anfang steht ein vergleichsweise ärmlich ausgestattetes Organ: das Ohr. Mit nur etwa 5000 so genannten Haarsinneszellen (zum Vergleich: im Auge sorgen 120 Millionen Fotorezeptorzellen für den richtigen Durchblick) verwandelt es
die Schallwellen in elektrische Impulse. Über das Trommelfell werden die winzigen Luftdruckschwankungen registriert, über die Gehörknöchelchen verstärkt und auf eine Membran am Anfang des flüssigkeitsgefüllten Innenohrs übertragen.
Das schneckenförmige Sinnesorgan vollbringt dann die erstaunliche Leistung, den eintreffenden Schall in seine einzelnen Frequenzen aufzuspalten. Tiefe Töne wandern tief in die Hörschnecke hinein und werden dort in Nervenimpulse umgewandelt; hohe Töne dagegen schon am Eingang des Innenohrs. Mit diesem Filter-Mechanismus gelingt es dem Ohr, selbst Töne voneinander zu unterscheiden, die nur ein Zehntel eines Halbtonschrittes auseinander liegen.
Von nun an besteht das Gehörte nur noch aus Nervenimpulsen, die durchs Hirn rasen – und ist gleichzeitig natürlich viel mehr als das: “Das Ohr überschreitet”, schrieb schon Joachim-Ernst Berendt in seinem Buch “Das dritte Ohr – vom Hören der Welt”: “Dort geht Materielles in Fühlbares, in Hörbares, in Messbares, in Nurnoch-gerade-Erahnbares, in Jenseitiges und Spirituelles und Unendliches über.”
Genau diese “Transzendierung” (Berendt) reiner Physik in schier unfassbar komplexe Wahrnehmung ist es, die für viele das Faszinosum der Musik ausmacht. “Für mich ist Musik in ihren besten Momenten der Versuch, die Trennung zwischen Menschendasein und Jenseits aufzulösen durch eine Verbindung mit Gott”, formuliert etwa der Komponist Karlheinz Stockhausen. Der Geiger Yehudi Menuhin wiederum hält Gesang gar für “die eigentliche Muttersprache des Menschen”. Doch wie ist das zu erklären?
Erst in jüngster Zeit haben sich Forscher aufgemacht, über die reine Physik der Musik hinaus die Wurzeln der menschlichen Musikalität zu ergründen. Zu allgegenwärtig erscheinen ihnen Rhythmen und Melodien, zu groß deren emotionale Kraft, als dass sie bloßes Beiwerk des Menschseins sein könnten. “Wenn man etwas hat, das in jeder bekannten Kultur und zu jeder Zeit vorkam, muss man sich fragen, warum das so ist”, sagt etwa Eckart Altenmüller vom Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover.
Und auch Thomas Geissmann vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich ist überzeugt: “Da Musik auf fast alle Menschen einen überwältigenden, zuweilen hypnotischen Effekt ausübt, müssen wir annehmen, dass es sich hierbei um ein ursprüngliches Merkmal mit starker erblicher Komponente handelt.”
An zwei Enden nehmen die Experten die Indizienkette auf. Zum einen gehen sie dem Phänomen dort auf den Grund, wo es entsteht: im Gehirn. Vor allem richten sie ihr Interesse auf die noch kaum erforschte Verbindung zwischen Musik und Emotion. Zum anderen blicken sie weiter zurück in der Evolution der Musik als je zuvor. Denn einem fernen Nachhall dessen, was die Ur- und Vormenschen der afrikanischen Steppe einst im Familienrund zu Gehör brachten, lässt sich noch heute lauschen – bei den singenden Affen in den feuchten Wäldern Sumatras, Borneos und Vietnams.
Gleich viermal unabhängig voneinander – bei den Indris in Madagaskar, den Sulawesi-Koboldmakis in Indonesien, den Springaffen in Mittel- und Südamerikas und den Gibbons in Südostasien – ist bei den Affen Gesang entstanden. Besonders Gibbons verblüffen durch erstaunliche musikalische Darbietungen (zu hören unter www.gibbons. de). “Traurig sind die Gesänge der Gibbons in den drei Schluchten von Patung – nach drei Rufen in der Nacht netzen Tränen das Kleid des Reisenden”, heißt es schon in einem chinesischen Lied aus dem 4. Jahrhundert.
Zwischen 10 und 30 Minuten können die in Strophen unterteilten Gesänge der Affen andauern, berichtet der Zürcher Zoologe Geissmann, der die Tiere vor Ort mit Mikrofon und Aufnahmegerät belauscht hat. Bei einigen Gibbon-Arten, etwa den indonesischen Siamang, singen Männchen und Weibchen sogar im Duett. “Vom Menschen abgesehen gibt es kein anderes Landwirbeltier, das auf ähnlich komplizierte Weise singt”, sagt Geissmann. Zudem lebten alle Affenarten, die bislang beim Singen erwischt wurden, monogam, also wie der Mensch in Einehe.
Der Forscher ist sich sicher: Paarbindung, aber auch Revierverteidigung und Gruppenzusammenhalt sind die Gründe für das Affenkonzert.
Als Vorläufer äffischer Tonlust hat Geissmann so genannte loud calls ausgemacht: laute Rufe, wie sie etwa Schimpansen ausstoßen. Gleich mehrmals habe sich bei Primaten aus den loud calls Gesang entwickelt: “Es sollte mich doch sehr wundern, wenn sich die Musik des Menschen nicht auch aus solchen Rufen herleitet.”
Tatsächlich fällt es Wissenschaftlern nicht schwer, auch beim Menschen Indizien für implizite Musikalität aufzuspüren. Besonders Kleinkinder sind dabei begehrte Versuchsobjekte, weil ihre Reaktion auf Klänge nur wenig von kulturellen Einflüssen überformt ist.
Im Labor der kanadischen Psychologin Sandra Trehub beispielsweise ist alles auf die kleinen Probanden eingestellt. Teletubbies und Spielzeugautos liegen herum. An der Decke hängen Mobiles. An den Wänden kleben bunte Poster.
Trehub sucht im Gehirn von Kindern nach den neuronalen Wurzeln der Musik. Das Prinzip der Versuche ist denkbar einfach: Über einen Lautsprecher spielt die Forscherin Babys Melodien vor, die auf einer bestimmten Tonart basieren. In unregelmäßigen Abständen jedoch sind einzelne schiefe Töne in die Melodie eingeflochten. Das Verblüffende: Die Kleinen merken die Dissonanz. Jedes Mal, wenn ein unpassender Ton kommt, halten sie inne und drehen ihren Kopf zum Lautsprecher.
Schon sechsmonatige Kinder reagieren auf diese Weise auf Musik, hat Trehub herausgefunden. Andere Forscher verlegen den Beginn der Musikalität sogar noch weiter nach vorn. Ab dem zweiten Lebensmonat nehmen Babys demnach bereits Rhythmuswechsel wahr. Ja, selbst Ungeborene sind schon empfänglich für musikalische Reize.
Bis ins Erwachsenenalter reagiert der Mensch höchst empfindlich auf Musik – auch dann, wenn er dies selbst gar nicht merkt. Das wies der Leipziger Psychologe Stefan Kölsch nach, als er Versuchspersonen, die sich selbst als unmusikalisch bezeichneten, Akkordfolgen vorspielte. Wie bei Trehubs Experimenten hatte Kölsch unpassende Akkorde in seine Klangfolgen gemogelt. Profi-Musiker sind darauf geschult, solche Misstöne zu erkennen. Die Laien in Kölschs Experiment jedoch bestritten vor Beginn des Versuchs, derlei Nuancen wahrnehmen zu können.
Ganz anders war Kölschs Befund: Er belauschte die Gehirnströme seiner Probanden mit Hilfe einer Art verkabelter Badekappe. Das entstehende Elektroenzephalogramm (EEG) gibt Aufschluss darüber, welche Hirnregionen jeweils aktiv sind. Binnen wenigen Millisekunden, so konnte Kölsch auf diese Weise nachweisen, reagierte das Hirn seiner Versuchspersonen auf die schrägen Töne. Das Fazit des Forschers: “Auch so genannte Nichtmusiker sind hoch sensibel für kleinste musikalische Variationen.”
Kölschs und Trehubs Experimente zeigen, dass Menschen Musik offenbar schon sehr früh und sehr universell verstehen. Die Frage indes, ob dieses Verständnis genetisch bedingt oder kulturell geprägt ist, beantworten sie nicht. Genau das aber ist der zentrale Punkt, wenn es um die evolutionäre Bedeutung der Musik geht: Ist sie letztlich nur ein Kulturprodukt? Oder hat die Natur dem Homo sapiens die Harmonielehre gleichsam ins Erbgut diktiert?
Experimentell ist die Frage kaum zu beantworten, denn dazu wären Probanden nötig, die bisher fern aller Musik gelebt haben. Und die gibt es praktisch nicht. Denn nie war so viel Musik wie heute. Im Auto, in der Küche, am Arbeitsplatz: Überall dudelt das Radio. Kein Supermarkt, keine Bahnhofshalle und kein Wartesaal kommt ohne Beschallung aus. Derart dauerberieselt könnten selbst Ungeborene unbewusst die Gesetze der Harmonie erlernen, argumentieren manche Forscher.
Sicher allerdings ist, dass zunehmend die Grenzen der Musikkulturen verschwimmen. Längst ist der Pop zum transkulturellen Experimentierfeld geworden. Der Stand der Globalisierung ist nirgends besser zu erkennen als am Grad der Vermengung von Stilen. Da dröhnt Robbie Williams noch im entlegensten Dorf Papua-Neuguineas aus dem Radio. Gleichzeitig werden in London Dancefloor-Rhythmen mit Sitars unterlegt. Heißt das, dass Musik von allen Menschen ähnlich verstanden wird?
“Oberflächlich betrachtet könnte man diesen Eindruck gewinnen”, sagt die Berliner Musikwissenschaftlerin Susanne Binas vom Forschungszentrum Populäre Musik. Wer jedoch genauer nachforsche, stelle rasch fest, dass derselbe Hit keinesfalls überall gleich wahrgenommen werde: “Musik funktioniert wie Seifenopern – je nach lokalem Hintergrund wird sie umgedeutet und kann deshalb sehr verschieden gehört werden.”
Tatsächlich ist Musik so vielfältig und alt, dass es schwierig erscheint, aus der Vielzahl der Stile und Traditionen eine Art Quintessenz zu ziehen.
Schon die Ägypter bliesen mit dicken Backen Trompete und Doppelrohrblattpfeife; die Sumerer zupften vor mehr als 5000 Jahren Harfe und Leier. Selbst in der Steinzeit scharten sich die Menschen schon zur Musik ums Lagerfeuer. So fanden Tübinger Forscher 1973 im Geißenklösterle, einer Höhle nahe Blaubeuren, eine Flöte aus Schwanenknochen. Das Instrument weist drei Grifflöcher auf, sein Alter wird auf 35 000 Jahre geschätzt (siehe Grafik Seite 132).
Rhythmische Strukturen werden in verschiedenen Erdteilen unterschiedlich interpretiert. Auch Tonleitern sind im Laufe der Menschheitsgeschichte gleich mehrfach entwickelt worden. So kennt etwa die indonesische Musik nur zwischen fünf und sieben Stufen in der Oktave. Die indische Musiktheorie teilt sie in 22 gleiche Intervalle ein, während das hiesige System mit 12 Halbtönen auskommt.
Und nicht einmal die Wirkung von Dur und Moll ist universell. Die Griechen etwa unterschieden in ihrer ausgefeilten Musiktheorie noch sieben verschiedene Tonleitern, denen sie bestimmte Wirkungen auf den Menschen zuordneten. Erst ab dem 16. Jahrhundert verarmte die Vielfalt zum heute in der westlichen Welt gängigen Dur-Moll-System.
Verdankt die Musik ihre Wirkung also doch nur einer kulturellen Konvention? Keineswegs: Zwar sind all ihre Spielarten Ergebnis lokaler Tradition, aber ihr innerster Gehalt ist doch verfasst in einer universellen Sprache. Den Rahmen stecken dabei die Physiologie und die Physik des Schalls. So unterschiedlich die Tonsysteme der Welt auch sein mögen – jedes von ihnen kennt zum Beispiel Grundtöne, die dem Hörer Orientierung verschaffen, und jede Melodie kehrt immer wieder zu dem gewählten Grundton zurück.
Stets gründen Tonsysteme zudem darauf, dass Töne im Abstand einer Oktave (also exakt doppelter Frequenz) als wesensverwandt empfunden werden. “Die Oktavgleichheit ist das einzige universell gültige harmonische Prinzip”, sagt der Musikforscher Jourdain: “Sänger glauben sogar manchmal, den gleichen Ton zu singen, obwohl sie in Wirklichkeit eine Oktave auseinander sind.”
Gerade wenn Männer und Frauen eine Melodie zusammen singen – die Männer eine Oktave tiefer als die Frauen -, ist dieses Phänomen offensichtlich und wird doch gleichzeitig als vollkommen natürlich wahrgenommen.
Und das ist kein Zufall. Denn tatsächlich kommt die Oktave schon in der Natur vor. Sie und mit ihr viele andere Elemente von Melodie und Harmonie haben ihre Wurzeln in den von schwingenden Gegenständen hervorgerufenen Klängen. Ob Baumstamm, Stein oder Trommel – immer besteht der Klang keinesfalls nur aus einem Ton, sondern aus vielen verschiedenen, die erst zusammen die Klangfarbe ausmachen.
Über dem vor allem wahrgenommenen Ton erklingen im Hintergrund so genannte Obertöne. Sie sind sehr leise, werden im Gehirn jedoch mit verarbeitet und bestimmen den Gesamteindruck von Musik wesentlich mit. Das Frappierende: Zu diesen in der Natur allgegenwärtigen Obertönen zählen eben genau die Oktaven – aber beispielsweise auch der Dur-Dreiklang, der gerade im westlichen Tonsystem eine herausragende Bedeutung hat.
Die natürlichen Obertöne sind es auch, die Musik schön, aber auch scheußlich klingen lassen. Ob sich bei einem Konzert vor Grauen die Nackenhaare sträuben oder ob wohlige Schauer den Rücken hinunterlaufen, hängt maßgeblich davon ab, welche Obertöne der Klang enthält.
Liegen viele von ihnen zu nah beieinander – so der Fall etwa beim Zusammenklang von zwei Tönen, die nur einen Halbton voneinander abweichen – schlägt das Ohr Alarm, die Harmonie geht flöten.
Sinnesforscher haben inzwischen die Erklärung dafür gefunden: Weil im Innenohr nah beieinander liegende Frequenzen auch nah nebeneinander liegende Nervenzellen aktivieren, geht gleichsam die Trennschärfe zwischen den Tönen verloren. Die Nervenimpulse überlagern sich gegenseitig. Das Gehirn interpretiert dieses Durcheinander als ein unerträgliches Wimmern.
“In der Musik ist unglaublich viel durch schwingende Körper und die Physiologie des Gehörs bereits festgelegt”, fasst der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer die Erkenntnisse zusammen**. Das Ohr habe sich den “Klängen, die es aus der Natur kennt, angepasst”. Auch die – letztlich willkürliche – Einteilung der Oktave in zwölf jeweils gleich weit voneinander entfernte Halbtöne in der abendländischen Musik sei schlüssig, weil sie den natürlichen Klangerfahrungen so gut wie irgend möglich gerecht werde.
So wird deutlich, dass sich Musik trotz ihrer Vielfältigkeit in ihren Grundzügen kulturübergreifend stark ähnelt und immer denselben Naturgesetzen folgt. Die universelle Gültigkeit musikalischer Regeln ist damit jedoch noch lange nicht am Ende. Denn was die Forscher vor allem von der Ursprünglichkeit der Musik überzeugt, ist ihre emotionale Kraft.
Wo immer Musik auch gespielt wurde und wird: Immer schon war sie das, was Leo Tolstoi als “Kurzschrift des Gefühls” bezeichnete. “Nachdem ich Chopin gespielt habe, fühle ich mich, als hätte ich über Sünden geweint, die ich nie begangen habe, und über Tragödien getrauert, die nicht die meinen sind”, bekannte Oscar Wilde. Thomas Mann wiederum verzückte eine einzige Note am Ende von Beethovens Klaviersonate Nummer 32 in c-Moll Opus 111.
Eine kleine Variation des Motivs nur, “vor dem d ein cis”, bringt in seinem Roman “Doktor Faustus” den Organisten Wendell Kretzschmar ins Schwärmen: Die “rührendste, tröstlichste, wehmütig versöhnlichste Handlung von der Welt” sei dieses cis, “wie ein schmerzlich liebevolles Streichen über das Haar”. Mit “überwältigender Vermenschlichung” lege dieser eine Ton das Stück dem Hörer zum “ewigen Abschied so sanft ans Herz, dass ihm die Augen übergehen”.
Es scheint vermessen, sich solchen zutiefst persönlichen Erfahrungen mit den Mitteln nüchterner Wissenschaft zu nähern. Und doch hat der britische Psychologe John Sloboda genau das versucht. Er hat seine Probanden nach ihren Gefühlen beim Hören von Musik befragt. 80 Prozent gaben an, dass bestimmte Stücke bei ihnen körperliche Reaktionen auslösen. Lachen und Weinen wurden ebenso genannt wie Gänsehaut, Herzklopfen oder Kloßgefühl in der Kehle.
Die Erfahrungen der verschiedenen Hörer stimmten dabei verblüffend gut überein. Bachs h-Moll-Messe, so fand Sloboda beispielsweise heraus, rührt stets beim “Dona nobis pacem” in Takt 40 bis 42 zu Tränen. Der Anfang von Elfmans “Batman Theme” jagt Schauer über den Rücken. Bei Beethovens Klavierkonzert Nummer 4 in G-Dur drückt in Takt 191 des dritten Satzes der Magen.
Zu den Auslösern der unvermittelten Gefühls-
wallungen gehören plötzliche Lautstärkewechsel, unerwartete Harmonien oder Melodien, die gleichsam von Ferne durch den Teppich der Begleitung dringen. Auch eine einsetzende Singstimme, eine Verzögerung der Schlusskadenz oder synkopische Rhythmen können im Organismus Gefühle wecken. “Gänsehaut-Faktoren” nennt Eckart Altenmüller derlei musikalische Elemente, die Komponisten zu allen Zeiten zu nutzen wussten.
Rachmaninows zweites Klavierkonzert dient als Trostpflaster bei Liebeskummer. Mozarts g-Moll-Sinfonie löst freudig-banges Herzzittern aus. Bei Bach wiederum ist es die für die meisten Hörer gleichsam immanente Erhabenheit der Musik, die fasziniert – ein Umstand, der oftmals als Resultat einer Art genialer mathematischer Ordnung im Werk des Meisters interpretiert wird. Doch eine solche versteckte Zahlensymbolik zu finden, haben sich ganze Generationen von Musiktheoretikern weitgehend erfolglos bemüht. Zwar setzt etwa im Choralvorspiel “Dies sind die heiligen zehn Gebot” das Fugenthema zehnmal ein, im “Herr, bin ich”s” der Matthäus-Passion erklingt das Wort “Herr” elfmal – entsprechend der Anzahl der Jünger.
Doch darüber hinaus ist Bachs angebliche Zahlensymbolik keinesfalls bewiesen und verkommt oftmals zum reinen Abzählspiel. Ob beispielsweise die Menge der Basso-continuo-Töne eines Arioso in der Matthäus-Passion auf einen alttestamentlichen Psalm verweisen soll, dessen Worte die entsprechende Evangelistenpassage kommentieren, erscheint vielen Musikwissenschaftlern heute als fragwürdig.
Dennoch spielt die Mathematik in der Musik schon deshalb eine wesentliche Rolle, weil sie sich zwangsläufig im Rhythmus wiederfindet, der jedes Lied vorwärts treibt. Im Marsch wird das starre Korsett des Viervierteltakts besonders deutlich. Mit der Präzision eines Uhrwerks drehen sich die Derwische im Tanz. Der Walzer ist deshalb so schwungvoll, weil ihn sein Dreiertakt mit Macht vorwärts treibt.
Besonders ergreifend wird Musik jedoch gerade dann, wenn sie mathematisch unscharf wird und sich gleichsam gegen einen allzu starren Rhythmus auflehnt. Ein faszinierendes Beispiel hierfür liefert der Swing: Swing ist das Herz des Jazz. Er erst erweckt Jazzmusik zum Leben und macht den Unterschied zwischen solcher Musik, die einen kalt lässt, und solcher, bei der jeder Fuß mitschwingen muss.
Doch wann swingt Musik? Die Grundstruktur des Swing-Rhythmus besteht darin, die Achtelnoten der Musik abwechselnd lang und kurz zu spielen. In Schlagzeugschulen taucht deshalb vielfach die Anweisung auf, die erste von jeweils zwei Noten doppelt so lang zu spielen wie die zweite. Doch diese exakte Regel funktioniert in Wahrheit nicht. “Wenn man das wörtlich nimmt, lernt man nie zu swingen”, sagt der schwedische Physiker Anders Friberg.
Friberg hat das Spiel berühmter Jazz-Schlagzeuger wie Tony Williams, der mit Miles Davis zusammenspielte, oder Jack DeJohnette, Mitglied des Keith-Jarrett-Trios, analysiert. Das Ergebnis: Je nach Tempo spielen die Profis den Swing vollkommen unterschiedlich. Ist er langsam, verlängert sich beispielsweise auch die erste der jeweils zwei Achtelnoten unverhältnismäßig stark.
Neben den Schlagzeugern verletzen auch die Jazz-Solisten systematisch den Grundrhythmus. Gute Musiker verkürzten die eine Note, verzögerten die andere und akzentuierten die dritte, berichtet Friberg. Beim Jazz ist dieses Phänomen extrem – und erst dadurch entfaltet diese Musikrichtung ihre emotionale Wirkung.
Friberg hat seine Erkenntnisse inzwischen in komplizierte mathematische Algorithmen übersetzt. Sogar nervig-piepsigen Handy-Klingeltönen kann der Physiker damit erstaunliches Leben einhauchen – sie wirken viel lebendiger, nicht mehr so automatenhaft.
Viele Komponisten verstanden und verstehen es zudem meisterhaft, mit der Spannung zwischen Wohlklang und Dissonanz zu spielen und damit die Gefühle der Zuhörer zu beeinflussen. Dem Franzosen Claude Debussy etwa kam dabei der Zufall zu Hilfe. Auf der Weltausstellung in Paris von 1889 lernte der Musiker den Klang javanischer Musikinstrumente kennen. Die gewöhnungsbedürftige Harmonik eines auf der Ausstellung gezeigten Gamelan – bestehend aus metallenen Gongs und Xylofonen – faszinierte den Künstler so sehr, dass er fortan mit der sechsstufigen Ganztonleiter experimentierte. Damit schuf Debussy Harmonien, die sich radikal von denen Bachs, Beethovens oder Brahms” unterschieden.
Auf die Spitze trieb den Verzicht auf jegliche Harmonik schließlich in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts der österreichische Komponist Arnold Schönberg mit seinem Zwölftonsystem. Sein Ziel war unter anderem der völlige Verzicht auf den Grundton. Kein Ton der Tonleiter sollte in der Zwölftonmusik öfter vorkommen als ein anderer. Oktaven waren bei ihm verpönt. Klänge mit besonderem Charakter vermied er wo immer möglich.
Schönberg wollte die traditionelle Harmonik ersetzen, um die Musik weiterzuentwickeln – und löste doch nur unverständiges Stirnrunzeln aus. “Sie bedienen sich der gleichen Tricks wie die schauerlich-schöne Achterbahn auf Jahrmärkten und Vergnügungsparks, in denen die vergnügungssüchtigen Besucher so durchgeschüttelt werden, dass sich sogar bei einem unbeteiligten Zuschauer das Innerste brezelartig verdreht”, spottete etwa der deutsche Komponist Paul Hindemith über die Zwölftöner. Hindemith glaubte nicht daran, dass das Publikum sein kulturell tief verwurzeltes System musikalischer Erwartungen ohne weiteres abwerfen könne.
Und tatsächlich scheint die Biologie gegen die Zwölftonmusik zu sprechen – zumindest dagegen, dass sie tatsächlich gefallen könnte. Zwar lauscht das Konzertpublikum ergeben der Musik Schönbergs und seiner Nachfolger. Genießen kann es die Töne jedoch kaum. “Obwohl allerhand interessante Dinge in dieser Musik zu finden sind, klingt sie für die meisten Menschen einfach nicht harmonisch, sie tut direkt weh”, sagt der Musikforscher Jourdain.
Musik kann buchstäblich Schmerzen verursachen. Auf der anderen Seite treibt sie zur Ekstase – und zwar tatsächlich abhängig davon, welche harmonischen oder musikalischen Tricks, welches Handwerkszeug der Komponist benutzt. Heute ist es vor allem die Filmmusik, die sich dieser Mechanismen meisterhaft bedient – und dies, obwohl gerade im Kino die Musik kaum bewusst wahrgenommen wird.
“Ein Film ohne Musik kann meistens keine Gefühle transportieren”, ist der deutsche Hollywood-Starkomponist Hans Zimmer überzeugt (siehe Gespräch Seite 142). Schon das unbewusste Hören macht die Kampfszenen in “Gladiator” so richtig dramatisch und “Hannibal” Lecters Treiben zum echten Schocker.
So wie ein Lichtstrahl die Augen und ein Geräusch die Ohren anspricht, so scheint ein Akkord den Gefühlssinn des Menschen zu reizen – und ebendiese Tatsache ist es, die Forscher immer mehr von der archaischen Kraft der Musik überzeugt. Unterstützt werden sie von Hirnforschern, die untersuchen, wie jene unmittelbaren reflexhaften Gefühlsreaktionen verschaltet sind.
Rätselhaftes und Faszinierendes hat die Wissenschaft inzwischen darüber zusammengetragen, auf welche Weise Musik in
der grauen Masse wirkt. Wie etwa ist die Begabung des blinden Autisten Tony DeBlois zu erklären, der, obwohl geistig behindert, achttausend Klavierstücke beherrscht und als Jazzmusiker reüssiert? Was ist vom Schicksal des russischen Komponisten Vissarion Shebalin zu halten, der, obwohl durch einen Schlaganfall der Sprachfertigkeit beraubt, noch seine fünfte Symphonie komponierte?
Gerade neurologische Schäden sind für Hirnforscher wie Musikologen ein Quell der Inspiration. So untersuchte etwa Isabelle Peretz von der University of Montreal in Kanada Menschen, die durch Hirnblutungen plötzlich vollständig ihre Fähigkeit verloren, Musik zu begreifen. Zwar konnten die Patienten noch normal sprechen und auch Geräusche wie Hundegebell wahrnehmen. Einst vertraute Lieder jedoch waren aus ihrem Gedächtnis getilgt. “Für diese Patienten gleicht Musik einer Fremdsprache”, sagt Peretz. Als Ursache vermutet die Forscherin eine Störung in der primären Hörrinde, gleichsam der Schaltzentrale des Hörens.
Mit Erstaunen beobachten die Forscher auch, wie sich ganze Strukturen im Gehirn verändern, wenn es dauerhaft und intensiv mit Musik konfrontiert wird. So ist bei Profimusikern beispielsweise das Corpus callosum um bis zu 15 Prozent dicker – jenes Faserbündel, das die beiden Hirnhälften miteinander verbindet. Auch enthält ihre Hörrinde 130 Prozent mehr graue Masse als die von Nichtmusikern. Bei Menschen mit absolutem Gehör – sie können ohne Vergleichston eine bestimmte Tonhöhe identifizieren – ist eine bestimmte Gehirnwindung im linken Schläfenlappen vergrößert.
Inzwischen wissen die Forscher, dass die linke Hirnhälfte – in ihr wird auch Sprache verarbeitet – eher für Rhythmen, die rechte dagegen für Klangfarben und Tonhöhen verantwortlich ist. Weiter vorn liegende Hirnregionen schließlich sind für kulturell bedingte musikalische Vorlieben od er Assoziationen zuständig (siehe Grafik Seite 135).
Vor allem aber gelang es in jüngster Zeit, die Schaltzentrale der durch Musik ausgelösten Gefühle dingfest zu machen. Der Musikforscher Altenmüller beispielsweise bat Musikstudenten, kurze Rock-, Pop-, Jazz- und Klassiksequenzen sowie Umweltgeräusche emotional zu bewerten. Bei als schön empfundenen Klängen regte sich die linke Schläfen- und Stirnregion des Großhirns. Bei unangenehmer Musik feuerten die Neuronen rechts. Das Interessante: Ebendiese Hirnareale werden auch bei Gefühlen aktiv, die durch gänzlich andere Reize ausgelöst sind.
Ähnliche Ergebnisse lieferte eine Untersuchung der kanadischen Neurologen Anne Blood und Robert Zatorre. Ihre Probanden wählten solche Musik aus, die ihnen “Schauer den Rücken hinunterschickte”. Mittels Positronenemissionstomografie (PET), die lokale Hirndurchblutungsänderungen erkennt, bildeten die Forscher dann die beim Hören dieser Musik aktiven Hirnareale ab.
Das Ergebnis: Musik hat tiefgreifende Wirkung auch auf das so genannte limbische System, das auch “Tor zur Emotion” genannt wird. “Schöne Musik aktiviert Zentren im Gehirn, die glücklich machen”, sagt Blood. Es handele sich dabei um dieselben Hirnregionen, die auch beim Essen, beim Sex oder bei Drogenkonsum aktiv würden, so die Forscherin. Gleichzeitig vermindere sich die Aktivität beispielsweise in den so genannten Mandelkernen, die bei Angst aktiviert würden.
“Musik stimuliert das körpereigene Selbstbelohnungssystem”, bilanziert Altenmüller. Neuronale Strukturen tief in jenen entwicklungsgeschichtlich alten Regionen des Gehirns würden aktiviert, die direkt für Emotionen verantwortlich seien. Selbst bei verschlossenen, apathischen, autistischen oder geistig behinderten Menschen riefen Klänge häufig emotionale Reaktionen hervor. Altenmüller: “Musik hat sehr wahrscheinlich eine uralte und wichtige Funktion für den Menschen.”
Was also hat den Menschen zum Homo musicus gemacht? Ist das Wiegenlied Ursprung aller Musik, wie sich aus Sandra Trehubs Experimenten folgern ließe? Hat Musik etwas mit Revierverteidigung oder Paarbindung zu tun, wie es die Gesänge der Gibbons im indonesischen Regenwald nahe legen? Oder sollte auch bei der Musik der unter Evolutionsbiologen so oft bemühte Sex die treibende Kraft sein?
Schon Darwin zog die Parallele zum Gesang der Vögel. Vormenschliche Männer und Frauen, noch nicht mit der Poesie der Sprache gesegnet, hätten sich möglicherweise “mit Noten und Rhythmen umworben”, vermutete er 1871 in “The Descent of Man”. Auch der Psychiater Manfred Spitzer hält Musik für eine Folge der so genannten sexuellen Selektion – und erklärt die Entstehung des menschlichen Genius gleich mit. Der Mensch habe auch deshalb ein immer größeres Gehirn entwickelt, weil er mit dessen Leistungsfähigkeit – ausgedrückt durch Musik – das weibliche Geschlecht beeindrucken konnte. Musik sei also eine Art Fitness-Indikator des Mannes, vergleichbar etwa mit dem Rad des Pfaus.
Diese Theorie jedoch hat eine offensichtliche Schwäche: “Die rein männliche Besetzung der Wiener Philharmonie einmal ausgenommen, gibt es keine Anzeichen, dass Männer musikalischer sind als Frauen”, spottet der US-Musikforscher David Huron von der Ohio State University.
Für viel wahrscheinlicher hält Huron, dass Musik einst entstand, weil sie den Zusammenhalt von Gruppen förderte. “Menschen sind extrem auf soziale Beziehungen angewiesen”, sagt der Forscher. Nur weil sie gemeinsam handelten, konnten die frühen Jäger-Sammler-Trupps bestehen.
Als Beispiel führt Huron die brasilianischen Mekranoti-Indianer an, die bis heute am Amazonas als Jäger und Sammler leben. Musik, berichtet Huron, spielte eine zentrale Rolle im Alltag dieses Stammes. Für mehrere Monate im Jahr machen es sich die Mekranoti-Frauen jeden Morgen und Abend auf Bananenblättern bequem und singen für ein bis zwei Stunden. Die Männer kriechen sogar schon um halb fünf Uhr morgens aus ihren Hütten und stimmen mit tiefem Bass ihre Gesänge an.
“Die Männer singen, um sich als Gruppe zu definieren und den Nachbarn mitzuteilen, dass sie wach und aufmerksam sind”, sagt Huron. Der frühe Morgen sei die beste Zeit zum Angriff. Mit dem Gesang signalisierten die Mekranoti ihre Verteidigungsbereitschaft und Geschlossenheit.
Auch der japanische Evolutionsforscher Hajime Fukui glaubt an die Theorie von der Musik als sozialem Kitt. Denn je mehr die Urmensch-Gruppen anwuchsen, desto wichtiger wurde es, soziale und sexuelle Spannungen zu schlichten. “Möglicherweise”, meint Fukui, “war da Musik die Lösung.”
Gemeinsames Musizieren senkt bei Männern die Konzentration des Aggressionshormons Testosteron und bei beiden Geschlechtern die Ausschüttung des Stresshormons Cortison. Die Produktion des Hormons Oxytocin dagegen, das soziale Bindungen fördert und beispielsweise auch die Mutter-Kind-Bindung verstärkt, wird durch Musik erhöht. “Nationalhymnen, Arbeitslieder, Partymusik und Kriegsgesänge haben alle denselben Effekt”, sagt Fukui, “sie reduzieren Angst und Spannung und erhöhen die Solidarität.”
In allen Zeiten wirkte Musik auf diese Weise. Zusammen zu singen und zu tanzen, selbst nur gemeinsam Musik zu hören schweißt Menschen zu Stämmen, zu Dörfern und zu Nationen zusammen. Zur Musik ziehen Menschen in den Krieg und begraben ihre Toten. Menschen singen, wenn sie sich Mut machen wollen und wenn sie trauern. Musik erklingt bei Triumphzügen, Hochzeiten und in Fußballstadien.
Bis zum heutigen Tag definieren sich viele Gruppen durch ihre Musik. Der Pop-Olymp ist voller Identifikationsfiguren für ganze Jugendkulturen. Da gibt es die unsterblichen Woodstock-Propheten Jimi Hendrix und Janis Joplin, die die Flower-Power-Generation mit ihren Liedern vereinte. Die rechtsradikale Szene trifft sich heute auf “Glatzenkonzerten” bei Bands mit so geschmacklosen Namen wie “Oithanasie” oder “Zillertaler Türkenjäger”. Die Techno-Nomaden verausgaben sich zu wummernden Beats auf der alljährlich wiederkehrenden Love Parade. Für Teenies dagegen sind Pop-Sternchen wie Britney Spears oder der Böse-Mädchen-Verschnitt Avril Lavigne sinnstiftend.
Von jeher haben Priester wie Politiker die enorme Wirkung von Musik erkannt. “Musik ist eine Hure”, bemerkte schon Ernst Bloch. Elias Canetti philosophierte über das Phänomen des Rhythmus, der einer formierten Masse den Eindruck von Größe, Ganzheit und Stabilität suggeriert.
Das abstoßendste Beispiel dafür lieferten die Nationalsozialisten. Als Hitler 1933 an die Macht kam, kontrollierte binnen kurzer Zeit Joseph Goebbels mit seinem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda das gesamte kulturelle Leben. Auch die Musik wurde zensiert und von der Politik instrumentalisiert. Jazz und Blues wurden als “entartet” verboten. Um Richard Wagner dagegen entstand ein mythischer Kult. In Beethoven feierte man das “Nordische”.
Auch andere Mächtige nutzten und nutzen die Macht der Musik. Zum Fall der Berliner Mauer etwa brummelte sich die ganze deutsche Polit-Prominenz durch die Nationalhymne. Auch das Trauma des 11. September versuchten die Regierenden spontan musikalisch zu lindern: Am Abend des Terrorakts sangen die versammelten Kongress-Abgeordneten auf der Treppe vor dem Ostflügel des Kapitols “God bless America”. Mit einem einzigen Lied gaben sie einer ganzen Nation Trost.
Oder die Kirche: Der Hauptgottesdienst der Katholiken ist ohne den liturgischen Gesang gar nicht denkbar. Erst die “Musica sacra” verleiht der Liturgie ihre heiligende Legitimation. Der Text wird durch die Musik dem normalen Sprechen enthoben und vereint dadurch die Gemeinde im Geiste – eine sinnstiftende Kraft, die sich in der Reformation wiederum gegen Rom richtete: Martin Luthers Kampflied “Ein” feste Burg ist unser Gott” schweißte die Protestanten zusammen und gab ihnen Mut, den Katholiken zu trotzen.
Diese vereinende Macht der Musik ist es vor allem, die Forscher in ihrer Gruppentheorie der Musikevolution bestätigt. Über den genauen Weg des Menschen zur Musik kann indes nur spekuliert werden.
Vermutlich spielte dabei das eine wesentliche Rolle, was die Forscher “Gruppensynchronisation” nennen: Alle fangen auf einmal an zu schreien. Doch langsam kommt Ordnung in das Chaos – etwa so, wie Beifall sich irgendwann automatisch zu rhythmischem Klatschen organisiert. Ein einheitlicher Sound aus zahlreichen Kehlen verschreckt den Feind höchst effektiv und gibt dem Einzelnen das Gefühl, Teil einer starken Gruppe zu sein.
“Wohl organisiertes Rufen ist möglicherweise viel beeindruckender als eine Kakophonie aus vielen Einzelstimmen”, meint etwa Gibbon-Forscher Geissmann. Selbst für die Frage, warum sich das Geschrei schließlich in Klänge wandelte, hat Geissmann eine Theorie parat: Im Vergleich zu Rufen seien Gesänge weit eindrucksvoller, weil sie über längere Zeit und über größere Distanz zu hören seien.
Aus dieser Art von Mut schürender und Schrecken verbreitender Protomusik, so die Vorstellung der Forscher, entstanden schließlich Musik und Sprache gleichermaßen.
“Möglicherweise kommunizierten Frühmenschen schon vor der Entstehung der Sprache mittels einfacher Musik”, vermutet Eckart Altenmüller. Der Leipziger Psychologe Kölsch geht noch einen Schritt weiter: “Ohne ein ausgesprochenes Musikverständnis könnten wir gar keine Sprache lernen”, sagt Kölsch.
Der Forscher verweist auf die so genannte Prosodie, jene Betonung und Rhythmik, die jeder Sprache innewohnt und die emotionale Botschaft des Gesprochenen transportiert. Zudem hat Kölsch in neuen Experimenten entdeckt, dass Musik auch just jenes Zentrum des Gehirns aktiviert, das als eines der wichtigsten Sprachzentren gilt: das so genannte Broca-Areal. Das Verblüffende: Die automatische Verarbeitung von Musikstrukturen läuft dort sogar schneller ab und beginnt in einem jüngeren Lebensalter als bei der Sprache – unabhängig davon, ob die Kinder Musikunterricht hatten oder nicht.
“Musikalität ist eine uralte menschliche Fähigkeit”, fasst Ian Cross aus Cambridge die Theorien zusammen. Als eine Art “Spielplatz” des Bewusstseins betrachtet der Forscher die Musik. Gerade weil Musik im Kern frei interpretierbar sei, erlaube sie den kreativen Lauf der Gedanken und die Entwicklung von Phantasie, was für die Gehirnentwicklung unerlässlich sei.
Erst das spielerische Jonglieren mit Tönen habe jenen “Quantensprung” in geistiger Beweglichkeit erlaubt, der dem Vormenschen den Weg aus dem Dschungel bahnte, glaubt der Forscher. “Ohne Musik”, sagt Cross, “wären wir vielleicht niemals zum Menschen geworden.”