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Gesammelte Texte von Philip Bethge auch im SPIEGEL-Archiv

  • Die Zähmung der Ströme

    Auf dem Balkan rauschen die letzten Wildflüsse Europas durch unberührte Täler. Doch künftig sollen sie von mehr als 570 Staudämmen gebändigt werden, um Strom zu gewinnen. Was ist kostbarer: grüne Energie – oder die Natur?

    Von Philip Bethge, DER SPIEGEL 3/2014

    Wer weiß schon noch, wie Flüsse einst flossen, als man sie ließ? Wie breit das Bett ist, das sie sich über die Jahrhunderte gebahnt haben? Wie Stillwasser glitzert neben Stromschnellen, die über Schotterfelder rauschen; wie Schwemmholz, zu Nestern getürmt, an den Ufern kleiner Inseln strandet. Wie Pappelschösslinge um Halt ringen, sich alles immerzu ändert an der Grenze zwischen Wasser und Land.

    An der Vjosa lässt sich beobachten, wie früher auch Elbe, Rhein und Oder die Landschaft formten. Der Fluss zieht durch sein Tal im Süden Albaniens, verzweigt sich in Arme, die bald wieder zusammenfließen, das Wasser gibt und nimmt den festen Grund.

    “Bei jedem Hochwasser verlagert die Vjosa ihren Lauf”, schwärmt Ulrich Eichelmann, Naturschützer von der Organisation Riverwatch, und blickt hinüber zum schmalen Band des Auwalds, der sich an die Talflanke schmiegt. “Der Fluss füllt das ganze Tal aus”, sagt der 52-Jährige. “So etwas gibt es in Europa nur noch hier, auf dem Balkan.” Dann hält er inne. Drüben am anderen Ufer steigt ein Kormoran schwerfällig in die Lüfte.

    Die Vjosa: 270 Kilometer Flusslandschaft, vom griechischen Pindosgebirge bis hinab zur Adria. Kein Damm stört das Wasser auf seinem Weg. Kein Betonbett lenkt den Lauf. Und jeder Kiesel erzähle eine Geschichte, sagt Eichelmann – von unberührten Orten oben in den Bergen, von Wasserfällen, Schluchten, Seen.

    So glasklar wie die Vjosa rauschen viele Gewässer in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens die Berge hinab, ebenso in Albanien und Bulgarien. “Auf dem Balkan schlägt das blaue Herz Europas”, sagt Eichelmann, der sich zusammen mit der Umweltorganisation EuroNatur dafür einsetzt, die natürlichen Ströme zu erhalten.

    80 Prozent der Flüsse auf dem Balkan, so zeigt ein Gutachten, sind noch in gutem oder sehr gutem ökologischem Zustand – ein Paradies für Fische, Muscheln, Schnecken und Insekten.

    Doch die letzten Wildflüsse Europas sind in Gefahr. Mehr als 570 größere Staudämme samt Wasserkraftwerken (jeweils mit einer Kapazität von über einem Megawatt) sind in der Region geplant (siehe Grafik).

    Mit dem Geld internationaler Finanzinstitute – unter ihnen die Deutsche Bank, die Weltbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) – sind die Wehrbauer ans Werk gegangen.

    Eine “Goldgräberstimmung” macht Eichelmann aus, die “Hydrolobby” wittere den letzten unerschlossenen Energiemarkt Europas. Kurz bevor die Balkanstaaten sich qua Beitritt den Öko-Reglements der Europäische Union unterwerfen müssen, versuche die Industrie, Tatsachen zu schaffen: “Was in der EU längst verboten ist, wird nun noch schnell auf dem Balkan versucht”, sagt Eichelmann. Im Namen von Ökostrom und Klimaschutz drohe ein Ausverkauf unberührter Natur.

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    In Albanien ist die Zähmung der Ströme in vollem Gang. Ein Bauboom hat das bettelarme Land ergriffen: Im Fluss Drin im Norden des Landes sind drei große Dämme bereits fertig. Für den Devoll hat die norwegische Firma Statkraft Konzessionen erworben. Und auch an der Vjosa droht Ungemach. Acht Dämme sind geplant. Einer davon ist bereits im Bau. Nahe der Ortschaft Kalivaç drängt der Fluss sich durch eine Enge. Bagger verschieben dort Berge aus Kies und Sand. Fast 50 Meter hoch und 350 Meter breit soll die Staumauer werden.

    Es ist ein Italiener, Francesco Becchetti, der diesen Staudamm errichten will. In seiner Heimat besitzt der 47-Jährige ein Bau- und Müllimperium, in Albanien einen Fernsehsender. Wer ihn treffen will, muss sich zunächst von einem seiner TV-Journalisten aushorchen lassen. Dann geht es über eine staubige Straße bis nach Kalivaç. Dort wartet der Industrielle mit seiner Entourage, einem guten Dutzend kräftiger Männer, die sich um eine beträchtliche Anzahl teurer Limousinen scharen.

    Im Bürocontainer der Baustelle zeigt Becchetti dann die Pläne für die Sperre der Vjosa. Dicke Gutachten hat der bärtige Italiener mitgebracht. 70 Millionen Euro habe sein Talsperrenprojekt bereits verschlungen, berichtet er, auch Geld der Deutschen Bank war dabei. Inzwischen hat sich das Geldhaus aus dem Joint Venture verabschiedet.

    Beim Aufstieg auf das halbfertige Bauwerk kommt die Rede dann auf die Vjosa. Ob Becchetti bekannt sei, dass es sich um einen der letzten Wildflüsse Europas handle? Nein, antwortet der Bauherr. “Aber der Damm wird kein Problem für die Umwelt sein”, sagt er. Und: “Ich musste mir das erst erklären lassen – aber wir planen eine Forellentreppe ein.”

    Eine Forellentreppe? Gegen den Komplettverlust eines einzigartigen Lebensraums? Aus Ökologensicht: ein schlechter Witz. “Sollte die Vjosa zu einer Kette von Stauseen verkommen”, befürchtet Spase Shumka von der naturwissenschaftlichen Fakultät der Agrar-Universität Tirana, “können zum Beispiel Aal und Meeräsche hier nicht überleben.” Bis zu 200 Kilometer wandern die europaweit bedrohten Fische bislang die Vjosa hinauf.

    Zahllose Vögel wie etwa Flussregenpfeifer, Seiden- und Silberreiher seien auf die Auen der Flüsse angewiesen, sagt Shumka. Und viele nur auf dem Balkan heimische Fischarten wie etwa die Pindus-Bachschmerle könnten an den Rand des Aussterbens gebracht werden.

    In der Hauptstadt Tirana wird allerdings schnell deutlich, dass Naturschutz in der Prioritätenliste der albanischen Regierung einen unteren Platz belegt.

    Im Regierungsviertel am Bulevardi Dëshmorët e Kombit residiert Damian Gjiknuri, Minister für Energie und Industrie. Zwar gibt sich der erst wenige Monate amtierende Politiker redlich Mühe, Verständnis für den Naturschutz aufzubringen. Die Energieversorgung des Landes liegt ihm indes mehr am Herzen.

    “Zurzeit müssen wir zwischen 35 und 40 Prozent unseres Stroms importieren”, sagt Gjiknuri. Um das zu ändern, habe Albanien keine andere Wahl, als auf Wasserkraft zu setzen. Das Potential sei enorm: “Wir können die heimische Stromproduktion durch Wasserkraft um das Zehnfache steigern.”

    Aus dem gleichen Grund will im benachbarten Mazedonien das staatseigene Energieunternehmen Elektrani na Makedonija (ELEM) zwei Staudämme bauen – mitten in einen Nationalpark.

    Das 73 000 Hektar große Mavrovo-Schutzgebiet liegt an der Grenze zu Albanien und dem Kosovo und ist einer der ältesten Nationalparks Europas. Buchen-Urwälder gibt es dort, durch die noch Wölfe und Bären schleichen. In den Bächen leben Fischotter, Forellen und Süßwasserkrebse. Stolz der Region ist der Balkan-Luchs; nur noch etwa 50 Exemplare der Katzenart streifen durch die Wälder – Aussterben in Sicht.

    Zwei größere Dämme sind im Mavrovo-Nationalpark geplant. “Lukovo Pole” liegt hoch oben in den Bergen, dort, wo die Bäume alpinen Feuchtwiesen weichen und die Pflanzenvielfalt am größten ist. In der Nähe haben Experten der Unesco ein Tal entdeckt, das als Weltnaturerbe in Frage kommt.

    71 Meter hoch soll der Lukovo-Pole-Damm werden. Eine neue Straße durch den Nationalpark müsste gebaut werden, um ihn zu errichten. Im Juli will die Weltbank entscheiden, ob sie das Projekt mit 70 Millionen Dollar unterstützt.

    Weiter unten im Tal liegt “Boskov Most”, das letzte Refugium des Balkan-Luchses. Dort soll ein Damm den Fluss Mala Reka blockieren. Die EBRD hat bereits 65 Millionen Euro für den Bau zugesagt. Eine schmale Straße führt entlang der Mala Reka bergan. Nach ein paar Minuten Fahrt stoppt Eichelmann den Wagen und springt hinaus. Der erste Schnee des Winters liegt wie eine löchrige Decke über dem Tal. Die Luft ist schneidend kalt. Der Fluss schäumt und rauscht.

    Eichelmann kraxelt die Böschung hinab. Und plötzlich ist da eine eigene Welt aus Licht und Schatten, Kälte und Feuchtigkeit. Das Wasser umtost moosbewachsene Felsen, verschwindet in Höhlungen, zwängt sich durch Kämme aus Eiszapfen.

    Am überhängenden Fels hat eine Wasseramsel ihr Kugelnest aus Moos gebaut. Im Labyrinth der Wurzeln und Steine leben nur auf dem Balkan vorkommende Forellenarten und die Larven von Köcherfliegen und Quelljungfern. “Das liebe ich: diese einzigartige Vielfalt”, sagt Eichelmann. Was passiert mit der Mala Reka, wenn der Damm gebaut würde? “Das Flussbett läge die meiste Zeit trocken.” Das Wasser des künftigen Stausees soll zwar noch durch die Mala Reka abgeleitet werden, allerdings nur zu Zeiten des höchsten Strombedarfs. “Schwallbetrieb” nennen Ingenieure das Konzept. Einmal am Tag jagt dann eine Flutwelle durchs Tal.

    Die Mehrheit der Tiere und Pflanzen im Ökosystem, fürchten Biologen, würde die tägliche Spülung nicht überleben. Und die für den Dammbau notwendigen Straßen würden Mavrovo fragmentieren und Wildtieren das Leben erschweren.

    Die internationalen Finanziers schert das nicht: “Keines der Gutachten legt nahe, dass der Nationalparkstatus von Mavrovo gefährdet wird”, heißt es bei der EBRD. Die Vielfalt sei nicht in Gefahr, beschwichtigen auch die Kraftwerksbetreiber des Energieunternehmens ELEM.

    Mazedonien gehört zu den Ländern des “202020-Netzwerks”. Diese Staaten haben sich vorgenommen, den Anteil grüner Energie bis 2020 auf mindestens 20 Prozent zu heben und den Treibhausgas-Ausstoß um 20 Prozent zu senken. “Ohne Wasserkraft kommen wir nicht aus”, sagt ELEM-Chef Dejan Boskovski.

    Doch der internationale Druck wächst. Die Weltnaturschutzunion IUCN fordert in einer Resolution, den Bau der Wasserkraftwerke im Mavrovo-Nationalpark aufzugeben. Und vergangene Woche wandten sich mehr als hundert europäische Forscher, unter ihnen auch der deutsche Naturwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker, direkt an Weltbank und EBRD, um die Finanzierung der Mavrovo-Dämme zu stoppen. “Wir sind überrascht, dass Ihre Institutionen überhaupt erwägen, diese Projekte zu unterstützen”, heißt es in dem Schreiben. Die Vorhaben “unterminieren die Nationalpark-Idee” und “verstoßen gegen EU-Gesetze wie die ,Natura 2000′-Direktive” und die Wasserrahmenrichtlinie.

    Wenn nichts geschehe, würden “diese Flüsse genauso zerstört wie unsere in den siebziger Jahren – und das auch noch mit unserer Hilfe”, mahnt Ulrich Eichelmann. “Ich bin nicht gegen Wasserkraft, aber wir brauchen einen Masterplan für den Balkan, um festzulegen, wo es in Ordnung ist, solche Kraftwerke zu errichten, und wo nicht.”

    Viele der Balkanstaaten strebten in die EU. “Wenn diese Länder etwas in die Gemeinschaft einbringen können, dann ist das Landschaft”, sagt der Naturschützer.

    Doch die meisten Balkanstaaten stecken tief in der Wirtschaftskrise. Wo kein Geld ist, wird Naturschutz zweitrangig. Selbst eine gründliche Bestandsaufnahme der Flussvielfalt steht bislang noch aus.

    Allerdings könnte die Krise den Flüssen indirekt sogar nützen. Denn sie hat den Dammbau vielerorts zum Spielfeld der Spekulanten werden lassen – und deshalb hat Albaniens Energieminister Gjiknuri erste Dammbaukonzessionen schon wieder kassiert. “Viele Investoren haben gar nicht erst angefangen zu bauen, sondern versucht, die Lizenzen auf dem Schwarzmarkt weiterzuverkaufen”, berichtet er. Andere würden “nur so tun, als bauten sie etwas”, um den Marktpreis ihrer Projekte zu erhöhen.

    Die halbfertige Talsperre bei Kalivaç erwähnt Gjiknuri nicht explizit. Er kann indes kaum verbergen, dass ihm auch diese Sache nicht geheuer ist. Aus gutem Grund: Denn so geschäftig Bauunternehmer Becchetti seine Dammbaustelle an der Vjosa auch präsentiert – getan hat sich dort seit vier Jahren fast gar nichts.

    Für Ulrich Eichelmann ist das ein Hoffnungsschimmer. “Noch ist an der Vjosa kein irreparabler Schaden entstanden”, sagt der Naturschützer. “Wir werden alles tun, um die Kraftwerke zu verhindern – aber es ist ein Rennen gegen die Zeit.”

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  • Satter als satt

    Dhanshakti-Hirse
    Dhanshakti-Hirse

    Fast jeder dritte Mensch ist mangelernährt. Doch nun bahnt sich eine neue Grüne Revolution an: Vielfalt auf dem Acker und Sortenzucht ohne Gentechnik sollen den Welthunger besiegen. Ein Großprojekt in Indien weist den Weg.

    Von Philip Bethge

    Die Hirse heißt “Dhanshakti”, zu Deutsch “Reichtum und Stärke”. Zumindest den Reichtum wagt Devran Mankar nicht mehr zu erwarten in seinem Leben. Ein Segen ist das Getreide trotzdem für den Kleinbauern: Es hält seine Familie satt und gesund.

    “Seit wir diese Hirse essen, sind die Kinder seltener krank”, schwärmt Mankar, ein schmaler Mann mit grauem Bart, zerschlissenem Gewand und Goldrandbrille.

    Sehr nahrhaft sei das Getreide, berichtet der Inder, während Enkelin Kavya auf seinem Schoß herumturnt. Und lecker sei es noch dazu: “Sogar dem Vieh schmeckt die Hirse.”

    Mankars Feld am Rande des Dorfs Vadgaon Kashimbe im Bundesstaat Maharashtra ist kaum 100 Meter breit und 40 Meter lang. In einem Monat wird das Getreide reif sein. Wenn kein Hagelsturm kommt – und Ganesha, der Elefantengott, möge es verhindern -, werde er dann etwa 350 Kilogramm Hirse ernten, sagt der Bauer, genug für ein halbes Jahr.

    Mankar und seine Familie nehmen teil an einem groß angelegten Ernährungsexperiment im Westen Indiens. Als einer von rund 30 000 Kleinbauern pflanzt der Inder Dhanshakti-Perlhirse an, ein Getreide, das es in sich hat: In den Körnern steckt ungewöhnlich viel Eisen und Zink. Indische Forscher haben der Pflanze diesen hohen Gehalt an Spurenelementen angezüchtet. “Bioverstärkung” nennen sie das.

    Das Ziel des von der Ernährungshilfeorganisation Harvest Plus initiierten Projekts: Bauern wie Mankar und ihre Familien sollen nicht mehr Hunger leiden.

    Die Dhanshakti-Hirse ist Teil einer neuen Grünen Revolution, mit der Bioforscher und Ernährungsexperten die Erde von Hunger und Mangelernährung befreien wollen. Immer noch werden weltweit 870 Millionen Menschen nicht satt. Und fast jeder Dritte leidet unter dem sogenannten versteckten Hunger, einem Mangel an Vitaminen und Spurenelementen wie Zink, Eisen oder Jod.

    Die Folgen sind vor allem für Mütter und Kinder dramatisch: Frauen mit Eisenmangel sterben öfter im Kindbett, haben mehr Frühgeburten und Menstruationsprobleme. Mangelernährte Kinder können erblinden oder leiden unter Wachstumsstörungen. Sie sind zeitlebens anfälliger für Infektionen und lernen schlecht, weil sich ihr Gehirn nicht richtig entwickelt.

    “Diese Kinder werden von Geburt an ihrer Zukunft beraubt”, sagt der indische Agrarwissenschaftler Monkombu Swaminathan, der seit mehr als 60 Jahren für das “fundamentale Menschenrecht” auf Sattsein arbeitet. Um das Hungerproblem endlich zu lösen, fordert Swaminathan zusammen mit anderen Ernährungsexperten eine neue Agrarwende. Nicht industrielle Hightechlandwirtschaft, sondern naturnaher Landbau, intelligente Pflanzenzucht und die Rückbesinnung auf alte Sorten sollen den Hunger ausrotten.

    Die Welt hat genug zu essen. Nur: Für die Armen, die sich überwiegend von Getreide ernähren, ist es das falsche Essen. Mais, Weizen, Reis, die vor allem auf Ertrag und nicht auf Nährstoffgehalt gezüchteten Sorten der industriellen Landwirtschaft, können die Ärmsten nicht ausreichend versorgen. Denn sich satt zu essen genügt nicht, um gesund zu bleiben. Nährstoffe und Spurenelemente sind mindestens so wichtig wie Kalorien.

    Ernährungssicherheit entstehe durch Vielfalt, sagt Swaminathan und fordert eine nachhaltige “Evergreen”-Revolution. Neue, nahrhaftere und klimatisch besser angepasste Getreidesorten müssten her. “Wir müssen Landwirtschaft wieder mit Ernährung verheiraten; beides war viel zu lange getrennt”, so der Forscher.

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    Swaminathan, 88, gilt als Vater der indischen Grünen Revolution in den Sechzigerjahren. Die Wände seines Büros in der Großstadt Chennai an der Ostküste des Landes hängen voll mit Ehrungen und Urkunden. “Indias Greatest Global Living Legend” steht auf einer. 1987 erhielt er den Uno-Welternährungspreis.

    Swaminathan schuf damals Reis- und Weizensorten, die kleiner waren als gewohnt, dadurch jedoch weit ertragreicher; zudem arbeitete er mit mischerbigen Pflanzen, die bis zu doppelt so produktiv sind wie ihre Elterngeneration.

    “Der Erfolg der Grünen Revolution war gewaltig”, berichtet Swaminathan. Als Jugendlicher habe er noch den “Bengalischen Hunger” erlebt, der Mitte der Vierzigerjahre Millionen Inder dahinraffte. “Damals wuchs auf einem Hektar Land weniger als eine Tonne Getreide”, sagt Swaminathan. Inzwischen habe sich der Hektarertrag mehr als verdreifacht.

    Doch zu welchem Preis? Die neuen Hochleistungssorten garantierten zwar hohe Ernteerträge, laugten jedoch auch die Böden aus und verbrauchten viel zu viel Wasser. Immer mehr Dünger und Pestizide waren nötig. Viele Kleinbauern verloren alles, weil sie erst investierten und dann ihre Ernte nicht mit Gewinn verkaufen konnten. Den Anbau traditioneller Brotgetreide vernachlässigten sie.

    “Früher ernährten sich die Bauern von 200 bis 300 Feldfrüchten”, sagt Swaminathan. Heute gebe es nur noch “vier oder fünf wichtige Sorten”. “Die Grüne Revolution”, klagt der Forscher, “hat den Hunger nicht ausgemerzt.”

    In Indien ist das Problem besonders dringlich. An die 250 Millionen Menschen, ein Fünftel der Bevölkerung, sind unterernährt. 50 bis 70 Prozent der Kinder unter fünf Jahren und die Hälfte aller Frauen leiden an Eisenmangel. Fast die Hälfte aller Kinder ist körperlich unterentwickelt oder sogar verkrüppelt, weil sie chronisch unter- und mangelernährt sind.

    Vor allem im Bundesstaat Maharashtra ist die Lage prekär. Am frühen Morgen geht es zusammen mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Bushana Karandikar aus der Bhagwhan-Hochburg Pune (ehemals Poona) hinaus aufs Land. Die Inderin treibt das Dhanshakti-Projekt für die Organisation Harvest Plus voran. “Die Mangelernährung ist die traurige Seite des indischen Aufschwungs”, erzählt sie während der Fahrt. “Es ist sehr überraschend, aber wir teilen das Problem mit den Ländern in Schwarzafrika, obwohl deren Pro-Kopf-Einkommen viel geringer ist.”

    Jetzt im Frühjahr ist Maharashtra grün. Mit seinen üppigen Feldern links und rechts der Straße und den Obstplantagen wirkt das Land fruchtbar. Zu besichtigen ist hier “Indiens Rätsel”, wie Forscher Swaminathan es nennt: “grüne Berge und hungrige Millionen”.

    Im Ort Ghodegaon wird schnell deutlich, woran es mangelt. An einer unbefestigten Straße, vor der 15-Betten-Klinik des Ortes, warten Männer, Kinder, vor allem aber junge Frauen in bunten Saris. Die Schuhe bleiben vor der Tür, an den Wänden hängen Götterporträts, umrankt von Blumenketten.

    Der Arzt Rajneesh Potnis empfängt im ersten Stock, reicht würzigen Kaffee und Süßes. 25 Jahre arbeitet Potnis schon hier. Die Studienkollegen hielten ihn für verrückt, als er nach Ghodegaon ging. Doch Potnis wollte helfen. Nun berät er stillende Mütter, hilft Kindern auf die Welt, behandelt Rachitis, Nachtblindheit und Blutarmut.

    “Den Frauen geht es am schlechtesten”, sagt der Arzt, “sie essen das, was übrig bleibt, und arbeiten zugleich am härtesten.” In der Folge erlitten sie Früh- und Totgeburten, Infektionen, Schwächeanfälle. Am schlimmsten seien die ethnischen Minderheiten betroffen, die am Rand der Gesellschaft leben. “Sie kommen erst, wenn es gar nicht mehr anders geht.”

    Potnis verteilt Mineral- und Vitaminpillen, die der indische Staat subventioniert; er rät den Familien zu vielseitiger Ernährung. Oft vergebens, erzählt der Arzt. “Es ist so einfach, den Leuten zu sagen: Esst mehr Hülsenfrüchte, mehr Gemüse und Eier – die meisten können sich das alles aber gar nicht leisten.”

    Hier kommt die bioverstärkte Hirse ins Spiel: Die Bauern bauen in der Gegend schon immer Hirse an. Warum dann also nicht einfach die traditionelle Hirsesorte durch die Dhanshakti-Hirse ersetzen? “Dann bekommen die Leute ihre Mineralien aus dem Brot, das sie ohnehin jeden Tag essen”, schwärmt Potnis.

    So wie im nahen Ort Vadgaon Kashimbe bei der fünfköpfigen Familie von Ramu Dahine: Schwiegertochter Meena backt heute das Bhakri, das traditionelle Fladenbrot aus Hirse. Im roten Sari kauert sie auf dem Boden vor dem kleinen wellblechgedeckten Steinhaus. Die Frau nimmt Hirsemehl und Wasser, knetet den Teig, legt den Fladen in eine Pfanne und bläst die Glut eines Holzfeuerchens mit einem langen Blasrohr an, bis die Flammen züngeln.

    Zweimal am Tag essen die Dahines das Brot. Beilagen gibt es kaum. Die Hirse habe der Saatguthändler empfohlen, berichtet der Bauer. Dass das Getreide mehr Eisen enthält, weiß er gar nicht. Und doch ist ihm aufgefallen, dass die Familie gesünder durch die letzte Regenzeit kam.

    Und die Hirse hat einen weiteren Vorteil: Weil sie keine Hybridsorte ist, kann der Bauer einen Teil der Ernte für die Aussaat in der nächsten Saison verwenden.

    “Für die Ärmsten der Armen ist diese Hirse eine große Hoffnung”, sagt Bhushana Karandikar. Zumal das Getreide wirkt: Schweizer Forscher zeigten, dass Dhanshakti-Hirse bei Frauen den Eisengehalt im Blut deutlich erhöhte. Indische Forscher belegten, dass schon täglich 100 Gramm der Hirse den Eisenbedarf von Kindern komplett abdecken können.

    Für die Verfechter der neuen, sanften Grünen Revolution ist das ein weiterer Erfolg auf ihrem Feldzug gegen den Hunger. Weltweit arbeiten Ernährungsspezialisten an nahrhafteren Getreide- und Gemüsesorten. In Brasilien etwa entwickelt die Forschungsorganisation Embrapa bioverstärkte Bohnen und Kürbisse sowie bioverstärkten Maniok. In Uganda und Mosambik pflanzen Bauern eine Provitamin-A-reiche Süßkartoffel an. In Ruanda essen mehr als 500 000 Familien mit Eisen angereicherte Bohnen. In Indien soll es neben der Dhanshakti-Hirse bald Reis und Weizen mit besonders hohem Zinkgehalt geben.

    Etwa sieben Millionen Männer, Frauen und Kinder habe man bereits erreicht, sagt Howarth Bouis, Chef des Harvest-Plus-Programms. Bis 2030 sollen eine Milliarde Menschen von bioverstärktem Getreide profitieren. Dass der Plan aufgehen könnte, liegt auch daran, dass Bouis schon früh entschied, die neuen Sorten ausschließlich konventionell zu züchten. “Wir haben uns gegen Gentechnik entschieden, weil wir der Kontroverse aus dem Weg gehen wollten”, sagt er. Zu gut erinnert sich der Harvest-Plus-Chef an den Streit um den sogenannten Goldenen Reis.

    Das schon seit 1992 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich entwickelte transgene Gewächs enthält fast doppelt so viel Betacarotin, die Vorstufe von Vitamin A, wie normaler Reis. Trotzdem wurde es bis heute nirgendwo auf der Welt zugelassen. Der öffentliche Widerstand gegen die Gentechnik ist zu groß.

    Ohnehin ist gentechnische Trickserei in vielen Fällen überflüssig. Denn häufig gibt es natürliche Sorten, deren Körner die erwünschten Vitamine oder Nährstoffe bereits enthalten. Gerade Reis ist dafür ein gutes Beispiel: Etwa 100 000 Sorten existieren auf der Erde. “Da lässt sich fast jede Eigenschaft finden, die man sich vorstellen kann”, sagt Swaminathan. In den Labors seiner M. S. Swaminathan Research Foundation (MSSRF) in Chennai tüfteln Forscher zum Beispiel an Reis mit hohem Zinkgehalt. Tausende Reislinien haben die Biologen dafür analysiert. Schließlich fand sich ein gutes Dutzend besonders zinkhaltiger Sorten. Diese werden nun mit solchen Sorten gekreuzt, die hohen Ertrag versprechen.

    Swaminathan hält allerdings auch den Hightechweg für geeignet, den Hungernden zu helfen. “Ich werde Gentechnik weder feiern noch rundweg ablehnen”, sagt er. “Es ist wichtig, alle Werkzeuge zu nutzen, traditionelles Wissen und moderne Wissenschaft.”

    Der Eisengehalt beispielsweise lasse sich in Reis nur schwer mithilfe konventioneller Zucht erhöhen. Stattdessen versuchen es die Forscher in der Petrischale. “Wir haben Gene der Mangrove isoliert und in die Reispflanzen eingeschleust”, erläutert Ganesan Govindan, einer der Biotechnologen an MSSRF. Die transgenen Reiskörner enthalten mehr Eisen. Gleichzeitig sind die Pflanzen salz- und trockentoleranter als zuvor. In zwei bis drei Jahren soll die Sorte marktreif sein.

    Gerade solche Hightechlösungen sind jedoch umstritten. In Indiens Hauptstadt Neu-Delhi lebt Vandana Shiva, eine profilierte Gegnerin der modernen Agrartechnik. Das Büro ihrer Organisation Navdanya liegt in Hauz Khas, einem der wohlhabenderen Stadtviertel. Blumen sind auf einem Glastisch hergerichtet. In der Ecke stehen Tonvasen mit Getreidegarben.

    Shiva, im wallenden Gewand und mit großem Bindi auf der Stirn, ist eine beeindruckende Erscheinung, gestählt durch den jahrzehntelangen, zähen Kampf mit dem Establishment. Die Bürgerrechtlerin wird nicht müde, die Saatgutkonzerne zu geißeln. “Eine global operierende Industrie versucht mit allen Mitteln, die Welt von ihren Produkten abhängig zu machen”, schimpft sie. Bauern, die einmal umgestiegen seien, würden ihr traditionelles Saatgut aufgeben und müssten die kommerziellen, oft mit Lizenzgebühren belegten Sorten fortan immer und immer wieder kaufen.

    “Diese Art von Landwirtschaft hat in Indien 25 000 Bauern in den Selbstmord getrieben, weil sie ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten”, sagt Shiva. Selbst von den bioverstärkten Sorten hält sie nichts. “Die Züchter dieser Pflanzen konzentrieren sich auf jeweils einen einzigen Nährstoff”, kritisiert sie, “dabei braucht der Körper alle diese Spurenelemente.”

    Statt solcher “Monokulturen” fordert Shiva die Rückkehr zur Vielfalt auf dem Acker. “Die meisten unserer traditionellen Sorten sind voll mit Nährstoffen”, sagt sie. Warum einen Goldenen Reis mit viel Vitamin A erschaffen, wenn Möhren und Kürbis genug davon enthielten? Warum an gentechnisch veränderten Bananen mit hohem Eisengehalt arbeiten, wenn Meerrettich oder Amaranth ohnehin so viel Eisen enthielten?

    Shiva empfiehlt Fruchtfolgen auf dem Acker, Gemüse- und Obstgärten sowie kleine Familienfarmen, deren Hauptziel Ernährung und nicht Gewinnmaximierung ist. 75 000 Bauern hat ihre Organisation seit Ende der Achtzigerjahre im Biolandbau ausgebildet – für Shiva der einzig richtige Weg, den Hunger zu besiegen.

    Doch kann Ökolandbau tatsächlich die Lösung sein? Harvest-Plus-Direktor Bouis hält Shivas Ansatz für naiv. “Wir haben das fundamentale Problem, dass wir zu wenig fruchtbares Land für eine ständig wachsende Bevölkerung haben”, sagt er.

    70 Prozent mehr Kalorien als heute wird die Landwirtschaft 2050 produzieren müssen, um dann 9,6 Milliarden Menschen zu ernähren, prophezeit ein Report des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Diese “Ernährungslücke” könne nur geschlossen werden, sagt Bouis, “wenn die Landwirtschaft noch produktiver wird”.

    Vor Ort in Maharashtra allerdings wird deutlich, dass dafür nicht immer kraftstrotzendes Supergetreide notwendig ist. Einem dritten Bauern aus dem Ort Vadgaon Kashimbe, Santosh Pingle, und seiner Familie geht es sichtbar besser als seinen Nachbarn. Das Haus ist verputzt. Kühe und Ziegen versorgen die Familie mit Milch. Manchmal gibt es sogar Huhn vom Markt. Pingles Erfolgsrezept: Der 38-Jährige hat mehr gemacht aus seinem Land.

    Auf einem halben Hektar pflanzt der Bauer die eisenreiche Dhanshakti-Hirse für den Eigenbedarf der fünfköpfigen Familie an. Die andere Hälfte seines Ackerlands ist mit Tomaten und besonders ertragreicher Hybridhirse bestellt. Beides verkaufen die Pingles auf dem Markt.

    Gleichzeitig gedeihen im Hausgarten eiweißreiche Bohnen und anderes Gemüse. Zitronen, Kokosnüsse und Mangos erntet Ehefrau Jayashree mit ihren Töchtern mehrfach im Jahr.

    “Reichtum und Stärke” – die Pingles sind inzwischen auf einem guten Weg dahin. Und genug zu essen haben sie allemal.

  • Nachtjägers Liebeslied

    Eine deutsche Biologin erforscht in Panama die Gesänge der Fledermäuse. Die Ultraschallsongs sind mitunter so komplex wie die Balladen von Vögeln. Linguisten wollen darin sogar Hinweise finden, wie die menschliche Sprache entstand.

    Von Philip Bethge

    Das Männchen der Großen Sackflügelfledermaus wirbt mit Gesang und Spucke um die Gunst des Weibchens. Im Schwirrflug steht der Troubadour vor der Angebeteten in der Luft und singt dabei sein Liebeslied.

    Alle paar Sekunden lässt der Fledermäuserich dabei Hautsäcke an seinen Armen aufschnappen. Darin fermentieren Urin, Speichel und andere Körpersekrete – aus Fledermausweibchensicht ein betörender Duft.

    “Die Männchen legen sich wahnsinnig ins Zeug”, schwärmt Mirjam Knörnschild. “Sie können sich eine Stunde lang mit einem Weibchen beschäftigen.” Die Biologin von der Universität Ulm blickt hinauf zu den Tieren, die weit oben in einem hohlen Baum vor sich hin flirten. Immer wieder schwirrt der nur etwa sieben Gramm schwere Fledermann vor der Angebeteten, ähnlich wie ein Kolibri vor der Blüte. Die Umworbene hängt derweil kopfüber im Baum und feuert den Minnesänger mit kurzen Schreien an.

    “Komm schon, komm schon, wie lange kannst du noch so fliegen?”, übersetzt Knörnschild die Rufe des Weibchens und horcht dann wieder mit dem Ultraschallmikrofon hinein ins Fledermaus-Duett. Die Forscherin ist Expertin für die Fledertier-Minne. Auf Barro Colorado Island, einer Insel mitten im Panamakanal gelegen, lauscht sie dem Singsang der Tiere.

    Ein neues Reich der Melodien tut sich auf – Forscher ergründen den Gesang der Fledermäuse. Bislang waren die Nachtjäger vor allem für ihre kurzen Ultraschalllaute bekannt, mit denen sie noch in pechschwarzer Nacht unfallfrei durchs Dickicht navigieren. Inzwischen jedoch zeigt sich: Auch liebliches Liedgut gehört zum Repertoire. Viele Fledermäuse singen wie Vögel.

    Ein Trillern, Tschirpen und Tirilieren hallt durch hohle Bäume, düstere Höhlen und alte Gemäuer. Ausgefeilt wie Nachtigallenjubel erweisen sich manche der Gesänge. Und viele der Melodien sind sogar erlernt: Einige Fledermäuschen gehen bei ihren Eltern in die Gesangsschule – das macht ansonsten nur der Nachwuchs von Menschen, Elefanten, Walen, von Delfinen, manchen Robben und vielen Vögeln.

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    “Vokales Lernen ist sehr selten im Tierreich”, erläutert Tecumseh Fitch, Kognitionsbiologe an der Universität Wien, der sich auf Tierkommunikation spezialisiert hat. Dass nun ausgerechnet die Flattertiere Melodien pauken, erscheint Fitch als pures Forscherglück. “Fledermäuse sind Säugetiere”, sagt er, “ihr Gehirn funktioniert ähnlich wie unseres.”

    Anders als etwa Delfine oder Elefanten ließen sich die Tiere zudem relativ problemlos im Labor untersuchen. “Ich glaube, dass Fledermäuse uns dabei helfen werden, die Evolution der menschlichen Sprache besser zu verstehen”, schwärmt Fitch.

    Das Konzert der Fledermäuse blieb lange Zeit unentdeckt, weil die Tiere es großteils außerhalb der Hörwelt des Menschen vorführen. Doch dank tragbarer Ultraschallmikrofone und Digitaltechnik für die Audiobearbeitung lässt sich die kleine Nachtmusik der Tiere immer besser erforschen. Dabei zeigt sich: Singende Fledermäuse finden sich allerorten.

    In Ostafrika brummelt die Herznasenfledermaus ihre Territorialgesänge durch die Nacht. Sie singt so tief, dass die Lieder auch für den Menschen gut zu hören sind. Von Brasilien bis Mexiko wiederum trällern die Männchen der Mexikanischen Bulldoggfledermaus. Die Biologin Kirsten Bohn von der Florida International University hat herausgefunden, dass die Tiere dabei sogar eine Art Syntax verwenden. Ihr Tschirpen und Summen kombinieren sie zu Satzteilen, diese Teile wiederum zu komplexen Songs. Die Abfolge passen sie dabei der jeweiligen sozialen Situation an.

    Auch in Deutschland singen die Fledertiere. Gerade jetzt ist für den Großen Abendsegler Paarungszeit. Die Männchen setzen sich in den Abendstunden und nachts an sogenannte Balzwarten, zum Beispiel vor Baumhöhlen. Dort singen sie – um ihr Revier zu verteidigen und um Weibchen anzulocken. Im Herbst balzt auch die Zweifarbfledermaus. Eigentlich ist sie an Felswänden heimisch. Jetzt fliegt sie häufig in der Nähe von hohen Häusern und Kirchen.

    Am besten lassen sich die Freiluftkonzerte der Flugsäuger allerdings in den Tropen erforschen. Dort gibt es nicht nur sehr viele Fledermausarten. Den Wissenschaftlern hilft auch, dass viele der Tiere weder wegziehen noch in den Winterschlaf fallen.

    Panamas Barro Colorado Island gehört zu den fledermausreichsten Weltgegenden überhaupt. Die vor mehr als hundert Jahren beim Bau des Panamakanals entstandene Insel ist eine Art riesiges Freilandlabor. Wer hier mit dem Boot ankommt, fühlt sich wie im Kinohit “Jurassic Park”. Dichter Regenwald reicht bis hinunter ans Ufer. Dort warnen Schilder vor den zahlreichen Krokodilen.

    An einer kleinen Bucht liegt die Forschungsstation des Smithsonian Tropical Research Institute. Wissenschaftler aus aller Welt mieten sich für Wochen oder Monate ein, um die einzigartige Lebenswelt des fast unberührten Dschungels zu studieren.

    Mirjam Knörnschild kommt seit über zehn Jahren regelmäßig hierher. Sie nennt die Anlage den “Club Med” unter den Forschungsstationen. Dreimal am Tag gibt es Kantinenessen. Duschen und Ventilatoren helfen gegen die schwüle Hitze, die schwer wie eine Dunstglocke über den gelb getünchten Gebäuden liegt.

    Die Biologin wartet am Anleger in Badelatschen, Multifunktionshose und Trägerhemdchen. Das blonde Haar hat die 35-Jährige zum Pferdeschwanz gebündelt. Ihr Büro liegt im zweiten Stock eines der Hauptgebäude. Schon auf dem Weg gibt es erste Fledermäuse zu sehen. Wie riesige dunkle Käfer krallen sie sich unter dem Vordach des Hauses kopfunter an die Wand. Deutlich sichtbar sind die Tiere mit bunten Ringen, die ihnen Knörnschild angelegt hat, an den Flügeln markiert. “Ich kenne hier jede Fledermaus persönlich”, scherzt die Forscherin.

    Große Sackflügelfledermäuse leben in Kolonien. Typischerweise schare ein Männchen einen Harem von zwei bis acht Weibchen um sich, die allerdings ausgesprochen wählerisch seien, erzählt Knörnschild. Obschon die Paarungszeit nur wenige Wochen dauert, muss der Fledermann die Damen das ganze Jahr über mit Gesang bezirzen – sonst macht sich die Flederfrau auf und davon zum Nachbar-Barden. Gleichzeitig muss der Fledermäuserich sein Revier verteidigen. Auch das erledigt er vor allem musikalisch.

    Wer die Tiere dabei belauschen will, macht sich am besten gegen Abend auf den Weg. Fast windstill ist es an diesem Tag unter hellgrauem Himmel. Das kleine Motorboot der Biologen schneidet seine ruhige Spur durch das graugrüne Wasser des Panamakanals, der sich hier zum Gatúnsee weitet. Nach kurzer Fahrt um die Insel ist ein kleiner Anleger erreicht, dort ein paar Gebäude, eine Lichtung, dahinter dichter Wald. Tukane rufen rau. Tauben gurren. Kapuzineraffen hangeln mit Getöse durch die Bäume. Über allem liegt der monotone Gesang der Zikaden.

    Die Großen Sackflügelfledermäuse leben unter dem überhängenden Dach eines kleinen Steinhauses. Noch dösen die Tiere. Knörnschild und ihr Kollege, der Biologe Thomas Hiller, spannen Fangnetze aus feinen Plastikfäden auf, die kaum sichtbar und auch per Echoortung schwierig zu entdecken sind. Dann startet Knörnschild ihren Lauschangriff. Ihr Richtmikrofon erfasst Frequenzen von bis zu 460 Kilohertz. Für das menschliche Ohr ist schon bei rund 20 Kilohertz Schluss.

    Bald beginnt der Balzgesang der Männchen, ein feines Gezwitscher, “am ehesten mit Nachtigallengesang vergleichbar”, sagt Knörnschild. Auf dem angeschlossenen Laptop kann die Biologin den Frequenzgang der Laute direkt grafisch verfolgen.

    Kurze Zeit später fangen die Barden der Nacht mit ihren Territorialgesängen an, rasend schnellen Abfolgen harter, rauer Silben, von denen ein Teil auch ohne Technik zu hören ist. Zwischendurch blitzen immer wieder die kurzen, hochfrequenten Echoortungslaute auf dem Bildschirm auf.

    Und auch das Singen einiger Jungtiere ist bald zu erahnen. “Babbeln” nennt Knörnschild die piepsigen Laute. “Die Jungen durchlaufen eine Phase, die mit der Plapperphase von Kleinkindern vergleichbar ist”, sagt sie, “dabei mixen sie ganz wild Sachen aus dem Lautrepertoire ihrer Eltern zusammen, offenbar um zu üben.”

    Knörnschild nimmt die Gesänge seit Jahren auf. Manchmal stellt sie auch Lautsprecherboxen in den Dschungel und spielt den Tieren Aufnahmen von Artgenossen vor. Die Forschungsergebnisse zeigen, wie vielseitig der Singsang ist. Große Sackflügelfledermäuse können sich beispielsweise individuell an ihren Gesängen erkennen. Bestimmte Triller nennt Knörnschild sogar “Passwörter”: Sie signalisieren die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.

    Die Balzgesänge wiederum sind wahre Werbebotschaften. “Die Weibchen scheinen auf Vielfalt Wert zu legen”, erläutert Knörnschild, “wir haben Hinweise, dass sich Männchen, die variabler und tieffrequenter singen, erfolgreicher fortpflanzen.” Der mit der schönsten Ballade und der tiefsten Stimme wird also auch bei Fledermäusen schnell zum Frauenschwarm.

    Und wahrscheinlich gibt es – ähnlich wie bei Walen – sogar Dialekte. So singen die Großen Sackflügelfledermäuse Panamas beispielsweise anders als jene in Costa Rica. Dort wiederum hören sich die Fledermaussongs an der Atlantikküste etwas anders an als am Pazifik. Die beiden Populationen sind durch eine Vulkankette in der Mitte des Landes getrennt.

    “Für die Fledermäuse ist der Gesang eine sehr effektive Art zu kommunizieren”, fasst Knörnschild zusammen. Die Biologin klappt jetzt ihren Laptop zu. Das Konzert ist für diesen Abend vorbei. Die Dunkelheit kommt schnell in den Tropen, und die ersten Tiere verlassen nun die Kolonie, um den nächtlichen Raubzug zu starten. Bald zappeln einige von ihnen im aufgespannten Fangnetz der Forscher.

    Vorsichtig löst Knörnschild die zarten Tiere heraus und beginnt, sie zu vermessen. Unterarmlänge, Gewicht und Gesundheitszustand notiert die Biologin. Aus der Flügelhaut entnimmt sie mit einer Art Locher eine Gewebeprobe für die Erbgutanalyse (das Loch wächst nach einigen Tagen wieder zu). Dann werden die Tiere mit routinierten Griffen beringt. Nachdem die Prozedur überstanden ist, entlässt Knörnschild die Fledermäuse, eine nach der anderen, zurück in die feuchte Tropennacht.

    Warum singen die Fledermäuse so vielseitig und ausdauernd? Die meisten Säugetiere sind reichlich einsilbig. Hunde bellen. Pferde wiehern. Katzen miauen. Selbst Schimpansen verfügen über ein Repertoire von nur etwa 15 Lauten.

    Anders manche Fledermäuse: Sie jubilieren, variieren, kopieren. Einige der Tiere könnten gar in der Lage sein, nicht nur als Jungtiere, sondern ihr ganzes Leben lang neue Gesänge zu erlernen, vermuten die Forscher. Warum nur? Eine Theorie: Ihr komplexes Sozialleben könnte die Quasselei hervorgebracht haben.

    Auch für den Menschen wird die Hypothese der sogenannten Machiavellischen Intelligenz diskutiert: Soziale Expertise treibt demnach die Evolution von Intelligenz voran, auch die von Sprache. Wer sich in der Gruppe zurechtfinden muss – sei es für die Jagd, die Balz oder die Aufzucht der Jungen -, dem nützt es, viel zu quatschen. Bei den Fledermäusen konnte Knörnschild die Theorie schon testen. Fünf Arten hat sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Martina Nagy verglichen. Tatsächlich zeigt sich: Je komplexer das Sozialgefüge, desto komplexer die Gesänge.

    Eine andere Theorie: Tiere, die viel schwatzen, tun es schlicht deshalb, weil es ihnen möglich ist. Schimpansen etwa ist es anatomisch verwehrt, komplexere Laute

    zu produzieren. Der Mensch hingegen ist dafür mit seinem tief liegenden Kehlkopf bestens ausgerüstet.

    Ähnlich die Fledermäuse: Für die Echoortung haben sie einen Stimmapparat entwickelt, der sich auch für die Kommunikation eignet. Gleiches gilt zum Beispiel für Delfine, die sich ebenfalls per Ultraschall orientieren.

    “Bei diesen Tieren war die Anatomie der Stimme ja schon vorhanden”, erläutert Fitch. “Um auch kommunizieren zu können, mussten sie diese Fähigkeit nur weiterentwickeln.”

    Die schönste Theorie indes führt die Sprachevolution auf die Liebe zurück. Schon Darwin vermutete: Sprache entstand schlicht deshalb, weil Weibchen Männchen gern singen hörten. Auch der Mensch – genauer der Mann – war demnach erst Sänger, dann Plaudertasche.

    “Das Männchen singt ,Scoobie-du-bi-dab-dab-doubi-du’”, erläutert Fitch, “das Weibchen denkt ,Wow, ich mag dieses Lied’.” Auch ein Duett mag der Ursprung des Gesprächs gewesen sein, sagt der Kognitionsforscher. Einige Primaten singen bis heute zu zweit. Die Gibbons Südostasiens etwa: Bei ihnen sei das Duett “Teil des musikalischen Werbens, aber auch ein Signal an alle anderen, dass dort zwei zusammengehören und die Partnerschaft gut funktioniert”, sagt Fitch.

    Die Fledermaus-Gesangsforschung, so hoffen die Forscher nun, soll derlei Hypothesen weiter erhärten. Rund 960 Fledermausarten leben auf der Erde. Bislang haben Biologen nur etwa 20 von ihnen beim Singen ertappt. “Da gibt es noch sehr viel zu entdecken”, sagt Knörnschild.

    Gerade hat sie die letzte Fledermaus von ihrer Hand aus zurück in die Nacht starten lassen. Stockdunkel ist es inzwischen im Dschungel Panamas geworden. Im Schein ihrer Kopflampen packen die Biologen ihre Fangnetze zusammen und bringen alles zurück zum Boot, während die Mücken das unerwartet reichhaltige Abendmahl aus Forscherblut feiern.

    Beim Ablegen blickt Knörnschild zurück auf den dunklen Wald. Am Rand des Dickichts jagen nun die Großen Sackflügelfledermäuse nach den Insekten der Nacht. Morgen früh werden die Männchen in ihre Kolonien zurückkehren und jeder ihrer Liebsten bei Ankunft jeweils eine neue Ballade widmen.

    Die Nacht ist hier voller Lieder – und für die Liebe singen sich wohl auch Fledermäuseriche fast um den Verstand.

     

  • Fliegende Schiffe

    Beim diesjährigen America’s Cup treten alle Teams mit dem gleichen Segelboot an: mit einem Superkatamaran, der die Traditionsregatta wieder spannend machen soll.

    Von Philip Bethge

    Der Katamaran rauscht heran wie ein tieffliegender Raubvogel mit muskulösen Schwingen. Hoch über dem Wasser kauern sich die Segler auf dem einen Rumpf der Yacht zusammen. Ihren Kopf haben sie mit Helm geschützt. Kein Wunder: Die Höchstgeschwindigkeit des Zweirumpfboots liegt bei etwa 80 Kilometern pro Stunde.

    Das Schiff vom Typ AC72 ist die jüngste Rennmaschine des America’s Cup. Zum 34. Mal werden im Sommer die mutmaßlich besten Segler der Welt zur berühmtesten Regatta der Erde zusammenkommen. Austragungsort ist diesmal die Bucht von San Francisco, ein “spektakuläres Segel-Amphitheater”, wie es Larry Ellison ausdrückt. Der Chef der Software-Firma Oracle gewann den vorigen Cup und darf das diesjährige Rennen deshalb ausrichten. Erwartet wird ein Extremsportspektakel erster Güte.

    Mit TV-Bildern aus der Luft und Ton- und Bildübertragung direkt von den Booten soll die Regatta ähnlich wie die Formel 1 zum Zuschauersport werden.

    Vor allem aber wird der Cup diesmal nicht in erster Linie zum Wettstreit der Schiffsbauer werden. Zugelassen für das Rennen ist nämlich nur ein einziger Bootstyp, die neue, rund zehn Millionen Dollar teure AC72. Alle sieben Rennteams versuchen derzeit, den Segelboliden in den Griff zu bekommen.

    “Kein Boot ist schwerer zu segeln als die AC72”, sagt James Spithill, Skipper des Oracle-Teams, “wir brauchen bärenstarke Männer; und jeder Fehler kann katastrophale Folgen haben.”

    Der Superkatamaran ist ein Seglertraum aus pechschwarzer Kohlefaser und Epoxydharz, 22 Meter lang, 14 Meter breit und knapp 6 Tonnen schwer. In der Mitte thront ein 260 Quadratmeter großer, 40 Meter hoher Flügel. Bis zu viermal effizienter als ein normales Segel soll die Superschwinge sein. Klappen an der Hinterkante erlauben es, das Flügelprofil während der Fahrt den Windverhältnissen anzupassen.

    “Das Profil eines normalen Segels lässt sich nur durch Zug von unten verändern”, erläutert Ingenieur Kurt Jordan vom Oracle-Team. Bei Rennyachten würden leicht 20 Tonnen auf dem sogenannten Baumniederholer lasten. Ein Flügel dagegen braucht keinen Zug, sondern hält seine Form von selbst. Mit der Schwinge soll die AC72 mehr als die doppelte Windgeschwindigkeit erreichen können.

    –> Geschichte im Original auf SPIEGEL Online lesen

    In einer Lagerhalle an San Franciscos Pier 80 feilt Jordan zusammen mit seinen Kollegen derzeit an den Feinheiten des amerikanischen Katamarans. Die Experten werten dafür die Daten von über 150 Sensoren aus, die an Bord des Schiffs installiert sind. Dann wird optimiert. Mit Hingabe arbeitet das Oracle-Team zum Beispiel an den Schwertern der beiden Rümpfe. Sie verhindern, dass das Boot zur Seite abdriftet.

    Bei der AC72 jedoch haben sie eine weitere Funktion. Die Schwerter sind wie ein “L” geformt. Die Folge: Wenn es schnell genug vorangeht, hebt sich der Katamaran vollständig aus dem Wasser.

    “Foiling” nennen Segler diese Gleitphase. Der Anblick ist spektakulär. Gerade noch pflügte die AC72 wie ein normaler Katamaran durch die Wellen. Dann schweben urplötzlich beide Bootskörper gleichzeitig in der Luft. Wie ein Pferd, dessen Zügel gelockert werden, beschleunigt das Boot binnen wenigen Sekunden beinahe auf das Doppelte seiner Geschwindigkeit. Allein das Schwert auf der windabgewandten Seite und die beiden langen Steuerruder zerschneiden noch das Wasser und lassen einen feinen Nebel aus glitzernder Gischt zurück.

    In so einem Moment lasten auf dem Schwert an die 200 Tonnen. Dabei ist das Kohlefaserbrett nur etwa einen Meter breit und acht Meter lang. “Es ist ein Drahtseilakt”, sagt Jordan, “wir loten die Grenzen der Belastbarkeit aus.” Das gilt auch für die Besatzung. Einzig mit Menschenkraft darf die AC72 gefahren werden. Elf Muskelpakete mit wettergegerbtem Gesicht sind an Bord. “Sie verrichten die Arbeit von 17”, sagt Skipper Spithill. Paarweise malochen sie an den Winschen, um zum Beispiel die Hydraulik der Schwerter zu bedienen oder das Vorsegel dichtzuholen, das mit vier Tonnen am Boot zerrt.

    “Diesmal geht es beim America’s Cup wirklich um die seglerischen Fähigkeiten”, schwärmt Spithill, “der durchschnittliche Segler hätte keine Chance, dieses Boot über den Kurs zu bringen.”

    Sogar Spithill selbst ist schon an dem Superkatamaran gescheitert. Bei Windstärke sechs kachelte er im vergangenen Oktober direkt vor der Uferpromenade von San Francisco über das Wasser. Plötzlich geriet der Katamaran aus dem Gleichgewicht. Der Bug der Riesenyacht bohrte sich in die brodelnde See. Das Heck rauschte in die Höhe. Der Katamaran überschlug sich. Über drei Monate dauerte es, bis das Oracle-Team sein Boot wieder zusammengeflickt hatte.

    Für das Rennen gehen die Segler auf Nummer sicher: Seit vorvergangenem Dienstag dümpelt ein zweiter AC72 vor dem Dock in San Francisco.

  • Die Geister des Urwalds

    Die Geister des Urwalds

    In der Karibik versuchen Biologen, den giftigen Schlitzrüssler zu retten. Der Säuger zählt zu den seltensten Arten der Erde. Dass er bislang überhaupt überlebt hat, grenzt an ein Wunder.

    Von

    Im Stockdunkeln schwärmen die Häscher aus. Gerüstet mit Kevlar-Handschuhen und Stirnlampen verschwinden die beiden Männer in der Nacht. Stundenlang ist nur noch das Zirpen der Zikaden, das Singen der Baumfrösche und das leise Wispern der Blätter zu hören.

    Dann, kurz nach Mitternacht, tauchen die zwei Fährtenleser aus dem Dorf Mencia im äußersten Südwesten der Dominikanischen Republik urplötzlich wieder auf. Am langen Schwanz baumeln in ihren Händen zwei Schlitzrüssler, struppig und rotbraun, mit einer Nase wie eine Karotte. Und der Biologe Jose Nuñez-Miño, für den die Einheimischen auf die Suche gehen, kann sein Glück kaum fassen.

    Im Jahr 1906 war der Naturforscher Alpheus Hyatt Verrill auf die karibische Insel Hispaniola gereist, um “Solenodon paradoxus” zu finden, den Dominikanischen Schlitzrüssler. “Hoffnungslos” sei es, des Tiers habhaft zu werden, warnten Kollegen, “genauso wahrscheinlich, wie Geister zu fangen”. Doch Verrill gelang der Coup. Ein Weibchen ging ihm in die Falle.

    Einhundert Jahre später sind Forscher dem Säuger wieder auf der Spur. Sie sorgen sich um das Überleben des nachtaktiven Tiers mit den winzigen Augen und dem merkwürdigen Rüssel. Rund 300.000 Euro hat die britische Darwin Initiative für das “Hispaniolan Endemic Land Mammals Project” bereitgestellt. Im Oktober erst startete die einzigartige Rettungsmission.

    “Wenn wir sie verlieren, gibt es nichts Vergleichbares mehr auf der Erde”

    “Schlitzrüssler sind lebende Fossilien und gehören zu den frühesten höheren Säugetieren der Erde”, erklärt Nuñez-Miño, der für den federführenden Durrell Wildlife Conservation Trust arbeitet. “Wenn wir sie verlieren, gibt es nichts Vergleichbares mehr auf der Erde.” Schon vor rund 76 Millionen Jahren – die Dinosaurier stampften noch über die Erde – huschten die Vorfahren der ulkigen Geschöpfe durchs Unterholz. Und noch etwas ist an ihnen besonders: “Sie sind die einzigen lebenden Säuger, die mit ihren Zähnen Gift injizieren können, ähnlich, wie es Schlangen tun”, sagt Samuel Turvey von der Zoological Society of London.

    Der Biologe arbeitet am Projekt “Edge” (“Evolutionary Distinct and Globally Endangered”), das die 100 seltensten und evolutionär einzigartigsten Säugetiere der Erde retten will. Der Chinesische Flussdelphin gehört dazu, der eierlegende Langschnabeligel oder die Hummel-Fledermaus, der wohl kleinste Säuger der Welt.

    Der Schlitzrüssler ist die Nummer vier auf der Liste. Und er steht exemplarisch für eine Vielzahl einmaliger Kreaturen, deren größtes Problem es ist, in ein Inselparadies ohne natürliche Feinde geboren zu sein. Schon die ersten Bewohner Hispaniolas begannen, den Wald abzuholzen. Erste Teile des Schlitzrüssler-Lebensraums gingen verloren. Die europäischen Invasoren setzten den Kahlschlag fort. Noch fataler indes war, dass die Europäer Hunde und Katzen einschleppten. Für die Raubtiere war der Schlitzrüssler leichte Beute.

    Längst steht der knuffige Säuger auf der Roten Liste der bedrohten Arten. Fast an ein Wunder grenzt es, dass es ihn überhaupt noch gibt. In Haiti hält er sich nur noch an den Hängen des Massif de La Hotte im äußersten Südwesten. Das letzte lebende Exemplar einer kubanischen Schlitzrüssler-Art wurde 2003 gesichtet. Die Dominikanische Republik jedoch, so hoffen Experten, könnte noch eine kleine überlebensfähige Population beherbergen.

    Über eine holprige Piste geht es am anderen Tag hinauf nach Mencia, das direkt an der Grenze zu Haiti liegt. Am Steuer des Geländewagens sitzt Jorge Brocca von der Naturschutzorganisation Sociedad Ornitología de la Hispaniola. Zusammen mit Nuñez-Miño betreut er das Projekt vor Ort. Die Biologen sind hoffnungsfroh. Eben haben sie eine ihrer Videofallen geborgen, die sie im Wald installiert hatten.

    Ist ein Schlitzrüssler nächtens durch den Laserstrahl getappt, der die Kamera auslöst? Nuñez-Miño startet den Computer. Die Forscher verstummen andächtig, als sie die kurze Videosequenz sehen: Da tapst das Tier, schwankend wie ein Seemann, tatsächlich durch die Tropennacht. “Nie zuvor wurde ein Schlitzrüssler in freier Wildbahn gefilmt”, schwärmt Brocca.

    Kurz zuvor hatten die Biologen im Wald “Nasenstupser” entdeckt: kegelförmige Löcher im Waldboden, die der Säuger auf der Suche nach Insekten hinterlässt. Ohnehin ist der Schlitzrüssler ein skurriles Wesen: Die Zitzen der Weibchen sitzen in der Leistenregion. Die Muttertiere schleifen ihre daran hängenden Jungen hinter sich her, berichtet Nuñez-Miño. Merkwürdig auch das laute Zwitschern und Zirpen der Tiere, sobald sie gestört werden – oder der Gang, langsam und breitbeinig wie Sumo-Ringer.

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    Verwechslung mit dem einheimischen Mungo

    Bei schwarzem Kaffee mit Zucker und Zimt erörtern die Biologen die Lage. Bis heute brennen die Bauern vor allem im bitterarmen Haiti Wälder nieder, um Holzkohle für ihre Kochstellen zu gewinnen. Zudem verwechseln die Einheimischen den Schlitzrüssler häufig mit dem Mungo. Das eingeschleppte Raubtier meuchelt Hühner und Hähne der Dorfbewohner. Für dominikanische Männer jedoch ist Hahnenkampf eine todernste Angelegenheit. Können die Forscher den Menschen erklären, dass der Schlitzrüssler schuldlos ist am Geflügeltod?

    Auch die Jagd ist problematisch: Die Einheimischen stellen in den Wäldern verwilderten Schweinen und Ziegen nach. Ihre Jagdhunde lassen sie dabei auch nachts frei herumlaufen. Zusammen mit verwilderten Hunden sind sie die größte Gefahr für den Schlitzrüssler. “Wir wissen, dass Hunde immer wieder Exemplare der Säuger töten”, sagt Nuñez-Miño.

    Doch es geht auch andersherum. Der Biss eines Schlitzrüsslers, gut gesetzt, kann einen Hund zur Strecke bringen. Giftiger Speichel fließt dann durch Rinnen in den unteren Schneidezähnen des Tiers. Ähnlich funktioniert das bei Schlangen.

    Tötet der Schlitzrüssler auch seine Beute mit dem Gift? Die Forscher wissen es nicht. Ohnehin beginnen sie fast bei null. Die Gesamtzahl der Tiere? Unbekannt. Das Verbreitungsgebiet? Unklar. Auch die Lebensweise liegt noch weitgehend im Dunkeln. Bald wollen sie einige der Tiere mit Sendern ausstatten, um ihnen zu folgen. Doch wie fängt man einen Schlitzrüssler? Erfahrene Fährtenleser sind rar.

    Mit Sardinen, Erdnussbutter und Salami versuchten die Biologen zuletzt, die Tiere in Fallen zu locken. Ohne Erfolg. Im Zoo der dominikanischen Hauptstadt Santo Domingo werden nun erstmals die kulinarischen Vorlieben der Säuger ergründet. Drei Tiere hausen dort auf Betonböden in kleinen Räumen. Ihr Fell ist grau geworden. Bislang wurden die Insektenfresser mit Pferdefleisch gepäppelt. Doch was fressen sie in der Wildnis? Testweise kredenzen die Forscher nun Tausendfüßer, Mäuseembryos und Katzenfutter.

    Zäh und andpassungsfähig

    Zoodirektorin Patricia Toribio plant zudem ein Zuchtprogramm, oftmals die letzte Chance für akut gefährdete Tierarten. Noch kann das aber nicht klappen: “Unsere drei Tiere sind allesamt Männchen”, räumt sie ein.

    Wird das alles reichen, um den Schlitzrüssler zu retten? Die Geschichte Hispaniolas spricht dagegen. Rund 25 einzigartige Säugerarten lebten einst auf der Insel, unter ihnen Faultiere, Spitzmäuse und sogar eine Affenart. Bis auf zwei Arten, das rattenähnliche Zaguti und eben den Schlitzrüssler, sind sie alle längst ausgestorben.

    Die Biologen sind dennoch zuversichtlich. Als die Hitze des Tages weicht, bringen die Fährtenleser die markierten und vermessenen Tiere zurück in den Wald. Neben einer Kuhweide unweit des Dorfes haben sich die Säuger angesiedelt. Vielleicht können sich Schlitzrüssler und Mensch doch arrangieren?

    “Der Schlitzrüssler ist ein zäher, anpassungsfähiger Charakter”, sagt Nuñez-Miño. “Sonst wäre er auch längst von der Insel verschwunden.”

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  • Rentiere in Flammen

    Wie gefährlich ist Weihnachten? Sehr! Von verletzten Seelen und Drogen im Lebkuchen ist zu berichten. Selbst Weihnachtsmann und Christkind bleiben nicht verschont.

    Von Philip Bethge

    Der Weihnachtsmann ist tot. Er verglühte bei dem Versuch, alle 378 Millionen Christen-Kinder der Erde binnen eines Tages zu beschenken.

    Ein Schlitten, gezogen von 214 200 Rentieren, beladen mit 321 300 Tonnen Geschenken sei notwendig für den Job, hat Rod Morgan vom US State Department errechnet. Mit 3000facher Schallgeschwindigkeit müsse das Gefährt durch die Luft rauschen zwecks termingerechter Lieferung. Der dabei auftretende Luftwiderstand erhitze die Rentiere, bis sie in Flammen aufgehen: “Das ganze Rentierteam wird in 4,26 tausendstel Sekunden vaporisiert” – Santa inklusive.

    “Wenn er jemals Weihnachtsgeschenke lieferte, ist Santa jetzt tot”, bilanziert Morgan, der im Internet über die Mission Impossible am Heiligen Abend aufklärt. Seine gar nicht frohe Botschaft: Weihnachten ist gefährlich. Sehr gefährlich – und nicht nur fürs Personal. Stapel medizinischer Literatur beweisen: Körper und Seele droht Ungemach, wenn wieder die Weisen aus dem Morgenland heraneilen.

    Schon die Vorbereitung auf das Fest birgt jede Chance auf Schadensmeldung. “Vorweihnachtliches Trauma: Die Briefkasten-Guillotine” lautet etwa der treffliche Titel einer Fallstudie britischer Mediziner, die berichten, wie sich eine 59-Jährige beim Einwerfen von Weihnachtskarten die Fingerkuppe am Briefkastenschlitz amputierte. Von Trauma muss auch die Rede sein bei der Arbeit texanischer Forscher mit dem Titel “Begegnung mit der Wirklichkeit: Die Reaktion von Kindern auf die Entdeckung der Santa-Claus-Legende”. Das überraschende Ergebnis: Nicht die Kinder reagierten verstört, als sie erfuhren, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Traurig waren vielmehr die Eltern.

    Zum Menü nimmt das Desaster seinen Lauf. Truthähne, die in der Mikrowelle explodieren, gehören jenseits des Atlantiks längst zur Folklore. Nachdenklich stimmen sollte auch der Fall eines Mannes, der auf

    einem Gasbrenner zu Weihnachten Filet Mignon mit vier Tassen Brandy flambieren wollte. Der Hobbykoch hatte Glück: Einzig Augenbrauen und Nasenhaare nahmen ihm die Flammen.

    Andere Weihnachtssitten wiederum scheinen geradezu dafür erdacht, Schaden anzurichten. Von einem 23-jährigen Dänen wird berichtet, der mit einer starken Schwellung am Hals beim Arzt erschien. Erst die Intensiv-Anamnese ergab: Der Mann hatte an einem Weihnachtsessen teilgenommen. Nach jedem Gläschen verpassten sich die Teilnehmer Handkantenschläge in die Nackenregion.

    Zum Trost wird sich der Mann ein paar Lebkuchen genehmigt haben. Doch Eltern aufgepasst: Das feine Gebäck hat es in sich. Drogen wollen Prager Pharmakologen in der Leckerei ausgemacht haben. Weihnachtsgewürze wie Muskat, Zimt, Gewürznelken oder Anis enthielten Vorstufen des Suchtstoffes Amphetamin, berichten die Forscher. Der findet sich auch in Designerdrogen wie Speed.

    Oh, du fröhliche Bescherung! Was die lieben Kleinen nicht alles schlucken können. Ganze Christbaumkugeln fanden sich schon in den Mägen der Racker. Überhaupt der Christbaum: Nicht nur geht er allerorten in Flammen auf. Seine Wirkung entfaltet er an den absonderlichsten Orten. Kanadische Mediziner etwa berichten von einem jungen Patienten, dessen Lunge sich über 18 Monate hinweg immer wieder entzündete. Erst eine Operation brachte Klarheit. Ein drei Zentimeter langer Fremdkörper fand sich im Lungengewebe: “Er glich dem Ende eines Tannenzweigs.”

    “Dies ist der erste publizierte Fall eines eingeatmeten Weihnachtsbaums”, schrieben die Autoren – sie irrten. In Australien lebte ein Zweijähriger über ein Jahr lang mit einem Kunststoff-Christbaum im Rachen. Ärzte fanden das Gewächs in seinem Kehlkopf. Die Familie, dazu befragt, erinnerte sich an eine “Hustenepisode”.

    Die Spitzenplätze der weihnachtlichen Morbiditätshitliste indes nehmen jene ein, die Anspruch auf den berüchtigten “Darwin Award” hätten, jenen Preis, den erhält, wer “den Genpool verbessert, indem er sich aus selbigem entfernt”. Es sind zu betrauern:

    * Jener Möchtegern-Santa, der seine Hüfte per Seil mit seinem geparkten Auto verband, um sich mit Geschenken den Schornstein des Familiendomizils hinabzulassen. Leider versäumte der Mann, seine Frau zu informieren. Die stieg in das Auto und fuhr davon.

    * Der 35-jährige Sachbearbeiter aus Südwestfalen, der auf einer Betriebsfeier eine Weihnachtspolonaise durch ein Fenster auf ein anliegendes Flachdach führen wollte. Der Mann ententanzte durch das falsche Fenster. Fünf Meter weiter unten traf er auf Beton.

    * Ein 34-jähriger Taucher aus dem Hessischen, der bei dem Versuch, einen Weihnachtsbaum am Grund eines zugefrorenen Stausees aufzustellen, das Bewusstsein verlor und ertrank. Warum der Mann die Konifere am Seegrund verankern wollte, bleibt rätselhaft.

    Zum Lachen ist das alles natürlich gar nicht. All jenen, die tatsächlich an Weihnachten verzweifeln, sei daher zugerufen: “Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Heiland geboren” (Lukas 2, 10-11). Und schon der hat unter dem Fest gelitten. Das jedenfalls legt eine Studie eines australischen Kinderarztpaares nahe. Marion und Tieh-Hee Koh analysierten 20 mittelalterliche Gemälde von Jesu Geburt aus der National Gallery in London. Auf elf Bildern war der neugeborene Jesus nackt, auf sieben beunruhigend leicht bekleidet.

    “Die Temperatur in Bethlehem zur Zeit von Jesu Geburt wird auf etwa sieben Grad geschätzt.” Den Kohs zufolge erlaubt dies nur einen Schluss: “Jesus litt an Unterkühlung.”

  • Die Musik-Formel

    Lieder können zu Tränen rühren und Massen in Ekstase treiben. Wie ist das möglich? Forscher entschlüsseln, wie sich physikalische Schwingungen in Gefühle verwandeln – und wie die rätselhafteste aller Künste einst entstanden ist. Machte erst die Musik den Menschen zum sozialen Wesen?

    Von Philip Bethge, SPIEGEL 31/2003

    Johann Sebastian Bach wird überdauern. Selbst wenn ewiges Eis die Erde unter sich begraben sollte oder die Sonne ihren Planeten verbrennt – dem C-Dur-Präludium aus dem zweiten Teil des “Wohltemperierten Klaviers” des Meisters wird all das nichts anhaben.

    Das Musikstück wird auch nach dem Ende des Planeten Erde noch an Bord der “Voyager”-Raumsonden auf der Reise zu fernen Welten sein. Gepresst auf eine vergoldete Kupfer-Schallplatte, entfernt es sich derzeit minütlich um gut tausend Kilometer von der Erde.

    Außer der Bach-Komposition finden sich 26 weitere Musikstücke sowie Grußworte in 55 Sprachen auf dem Tonträger, der im All Jahrmilliarden überdauern soll. Sogar einen Alu-Plattenspieler samt Gebrauchsanweisung hat die Raumsonde im Gepäck – vorgesehene Laufgeschwindigkeit: 16 2/3 Umdrehungen pro Minute.

    Die musikalische Botschaft soll fernen Zivilisationen vom menschlichen Genius künden. Musik, so scheint die Übereinkunft, gehört zur Essenz intelligenten Lebens, zu jenen Dingen, die das Menschsein erst ausmachen.

    Was aber sollte ein außerirdischer Empfänger eigentlich mit der akustischen Botschaft anfangen? Die Abbildungen vom Planeten Erde und dem Menschen – auch sie an Bord der Voyager-Sonden – erlauben ihm, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie die Absender der geheimnisvollen Botschaft aussehen und woher sie stammen.

    Auch Worten und mathematischen Formeln lässt sich ein Sinn entlocken, wenn erst einmal der dazu notwendige Code geknackt ist. Aber einem Präludium? Muss es nicht jedem Nicht-Menschen nur als Krach erscheinen?

    Musik ist die wohl merkwürdigste Kunstgattung, die der Mensch je hervorgebracht hat. Anders als Malerei, Poesie oder Bildhauerei stellt sie die Welt nicht dar. Ein Akkord bedeutet nichts, eine Melodie hat keinen Sinn.

    In ihrem Kern ist Musik reine Mathematik – berechenbare Luftschwingungen, deren Frequenzen sich nach physikalischen Regeln überlagern. Und doch geschieht eine Art Wunder: Mathematik verwandelt sich in Gefühl.

    Musik kann zutiefst berühren. Kaum ein Mensch ist immun gegen ihre Magie. So sinnentleert die Aneinanderreihung von Tönen scheint, keine Kultur mag darauf verzichten. Ob die Gamelan-Musik Indonesiens, die doppeltönigen Kehlgesänge der Nomaden im sibirischen Tuva oder der wundermächtige Sopran einer Maria Callas: Musik bewegt, provoziert, entzückt.

    Doch wie ist das möglich? Warum fährt ein forscher Rhythmus dem Mensch in alle Glieder? Wieso weckt der eine Akkord Wehmut und Sehnsucht, der andere hingegen Triumphgefühle? Wozu dient das ganze Flöten, Trommeln und Tirilieren?

    Und schließlich: Was genau ist Musik eigentlich? Weshalb besteht der überraschende Zusammenhang zwischen Zahlen und Klängen? Und wann und warum hat der Mensch damit begonnen zu musizieren?

    Mit den Methoden der modernen Wissenschaften gehen Psychologen, Hirnforscher, Mathematiker und Musikwissenschaftler dem Phänomen nun auf den Grund. Musik, so zeigt sich dabei, ist weit mehr als zweckfreier Müßiggang. Immer deutlicher offenbaren die Befunde, wie eng sie mit dem Wesen des Menschen und seiner Lebenswelt verbunden ist:

    * Musik ist Kultur gewordene Natur. Der Klang eines hohlen Baumstammes, das Pfeifen des Windes, selbst das Geräusch, das ein fallender Stein verursacht, legen die Grundlagen dafür, wie der Mensch Musik wahrnimmt und interpretiert.

    * Melodien und Rhythmen wirken auf genau jene Hirnregionen, die für die Verarbeitung von Trauer, Freude und Sehnsucht zuständig sind; Musik, so zeigt sich damit, öffnet das Tor in die Welt der Gefühle.

    * Schon sehr früh ist das menschliche Gehirn auf Musikalität programmiert; selbst wenige Monate alte Babys können bereits harmonische von dissonanter Musik unterscheiden.

    * Die Wurzeln der Musik reichen bis ins Tierreich zurück; noch ehe der Mensch das erste Wort sprach, war vermutlich Musik die archetypische Ausdrucksform menschlicher Kultur.

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    Seit je rätseln die Denker über die herausragende und intensive Wirkung der Tonkunst. Der Philosoph Immanuel Kant sah sie als Natursprache der Empfindungen. Friedrich Schiller stellte den Musiker als “Seelenmaler” dem Dichter zur Seite. Die ersten Versuche, das Phänomen wissenschaftlich zu erfassen, unternahmen bereits die Griechen.

    Seiner Zeit weit voraus, beschrieb der Philosoph Pythagoras um 500 vor Christus als Erster den verblüffenden Zusammenhang zwischen Mathematik und Musik. Mit Hilfe eines so genannten Monochords – einer Art Gitarre mit nur einer einzigen Saite – untersuchte der Denker die Geheimnisse der Tonkunst. Er erkannte, dass sich die grundlegenden Musikintervalle durch einfache Zahlenverhältnisse beschreiben lassen.

    Mit einem verschiebbaren Steg teilte Pythagoras die Saite des Monochords beispielsweise im Verhältnis eins zu zwei. Die beiden Saitenabschnitte erklangen fortan im Abstand von genau einer Oktave, dem Grundintervall jeder Musik. Der sein Leben lang nach mathematischer Perfektion forschende Grieche war über die Entdeckungen wohl entzückt: Zu gut passte sie in sein mechanistisches Weltbild, dem zufolge das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben sei.

    Noch weitere grundlegende musikalische Intervalle konnte Pythagoras mit Hilfe des Monochords erzeugen. So entwickelte er schließlich die erste Tonleiter der Weltgeschichte, die bis heute mit leichten Veränderungen in der westlichen Welt Bestand hat.

    Erst im 17. Jahrhundert jedoch – längst waren Notensystem, Mehrstimmigkeit und Harmonik erfunden – gelang es dem französischen Mönch und Mathematiker Marin Mersenne, den Zahlenspielen des Griechen eine physikalische Erklärung zu geben. Mersenne brachte bis zu 40 Meter lange Saiten zum Klingen und zählte ihre Schwingungen. Das Ergebnis: Tatsächlich schwingt eine Oktave stets exakt doppelt so schnell wie der jeweilige Grundton.

    Denn nichts anderes als Schwingungen sind die Töne – ein ewiges Hin- und Hertanzen kleinster Luftmoleküle, deren Bewegung erst die Qualität dessen bestimmt, was an die Ohren der Welt dringt.

    Wasser rauscht, Steine klackern, Blätter rascheln und Sand knirscht – doch all diese Geräusche sind noch keine Musik. Wie wütend gemachte Bienen sausen die Luftteilchen bei derlei Getöse chaotisch durcheinander. Erst wenn die Luftmoleküle gleichsam in Reih und Glied schwingen, erklingt schließlich ein einzelner Ton (siehe Grafik Seite 138). Natürliche und durch Instrumente erzeugte Töne bestehen dabei meist aus Schwingungen mehrerer Frequenzen, die sich überlagern.

    “Tatsächlich addiert jedes Luftmolekül in einem Konzertsaal die Schwingungen aller Instrumente zu einem einzigen wilden Tanz”, beschreibt der amerikanische Musikwissenschaftler Robert Jourdain den unwirklich komplexen Vorgang*. Diesen Tanz zu erfassen und daraus jede einzelne der ursprünglichen Schwingungen herauszufiltern ist die ungeheure Leistung des menschlichen Gehörsinns. Am Anfang steht ein vergleichsweise ärmlich ausgestattetes Organ: das Ohr. Mit nur etwa 5000 so genannten Haarsinneszellen (zum Vergleich: im Auge sorgen 120 Millionen Fotorezeptorzellen für den richtigen Durchblick) verwandelt es

    die Schallwellen in elektrische Impulse. Über das Trommelfell werden die winzigen Luftdruckschwankungen registriert, über die Gehörknöchelchen verstärkt und auf eine Membran am Anfang des flüssigkeitsgefüllten Innenohrs übertragen.

    Das schneckenförmige Sinnesorgan vollbringt dann die erstaunliche Leistung, den eintreffenden Schall in seine einzelnen Frequenzen aufzuspalten. Tiefe Töne wandern tief in die Hörschnecke hinein und werden dort in Nervenimpulse umgewandelt; hohe Töne dagegen schon am Eingang des Innenohrs. Mit diesem Filter-Mechanismus gelingt es dem Ohr, selbst Töne voneinander zu unterscheiden, die nur ein Zehntel eines Halbtonschrittes auseinander liegen.

    Von nun an besteht das Gehörte nur noch aus Nervenimpulsen, die durchs Hirn rasen – und ist gleichzeitig natürlich viel mehr als das: “Das Ohr überschreitet”, schrieb schon Joachim-Ernst Berendt in seinem Buch “Das dritte Ohr – vom Hören der Welt”: “Dort geht Materielles in Fühlbares, in Hörbares, in Messbares, in Nurnoch-gerade-Erahnbares, in Jenseitiges und Spirituelles und Unendliches über.”

    Genau diese “Transzendierung” (Berendt) reiner Physik in schier unfassbar komplexe Wahrnehmung ist es, die für viele das Faszinosum der Musik ausmacht. “Für mich ist Musik in ihren besten Momenten der Versuch, die Trennung zwischen Menschendasein und Jenseits aufzulösen durch eine Verbindung mit Gott”, formuliert etwa der Komponist Karlheinz Stockhausen. Der Geiger Yehudi Menuhin wiederum hält Gesang gar für “die eigentliche Muttersprache des Menschen”. Doch wie ist das zu erklären?

    Erst in jüngster Zeit haben sich Forscher aufgemacht, über die reine Physik der Musik hinaus die Wurzeln der menschlichen Musikalität zu ergründen. Zu allgegenwärtig erscheinen ihnen Rhythmen und Melodien, zu groß deren emotionale Kraft, als dass sie bloßes Beiwerk des Menschseins sein könnten. “Wenn man etwas hat, das in jeder bekannten Kultur und zu jeder Zeit vorkam, muss man sich fragen, warum das so ist”, sagt etwa Eckart Altenmüller vom Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover.

    Und auch Thomas Geissmann vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich ist überzeugt: “Da Musik auf fast alle Menschen einen überwältigenden, zuweilen hypnotischen Effekt ausübt, müssen wir annehmen, dass es sich hierbei um ein ursprüngliches Merkmal mit starker erblicher Komponente handelt.”

    An zwei Enden nehmen die Experten die Indizienkette auf. Zum einen gehen sie dem Phänomen dort auf den Grund, wo es entsteht: im Gehirn. Vor allem richten sie ihr Interesse auf die noch kaum erforschte Verbindung zwischen Musik und Emotion. Zum anderen blicken sie weiter zurück in der Evolution der Musik als je zuvor. Denn einem fernen Nachhall dessen, was die Ur- und Vormenschen der afrikanischen Steppe einst im Familienrund zu Gehör brachten, lässt sich noch heute lauschen – bei den singenden Affen in den feuchten Wäldern Sumatras, Borneos und Vietnams.

    Gleich viermal unabhängig voneinander – bei den Indris in Madagaskar, den Sulawesi-Koboldmakis in Indonesien, den Springaffen in Mittel- und Südamerikas und den Gibbons in Südostasien – ist bei den Affen Gesang entstanden. Besonders Gibbons verblüffen durch erstaunliche musikalische Darbietungen (zu hören unter www.gibbons. de). “Traurig sind die Gesänge der Gibbons in den drei Schluchten von Patung – nach drei Rufen in der Nacht netzen Tränen das Kleid des Reisenden”, heißt es schon in einem chinesischen Lied aus dem 4. Jahrhundert.

    Zwischen 10 und 30 Minuten können die in Strophen unterteilten Gesänge der Affen andauern, berichtet der Zürcher Zoologe Geissmann, der die Tiere vor Ort mit Mikrofon und Aufnahmegerät belauscht hat. Bei einigen Gibbon-Arten, etwa den indonesischen Siamang, singen Männchen und Weibchen sogar im Duett. “Vom Menschen abgesehen gibt es kein anderes Landwirbeltier, das auf ähnlich komplizierte Weise singt”, sagt Geissmann. Zudem lebten alle Affenarten, die bislang beim Singen erwischt wurden, monogam, also wie der Mensch in Einehe.

    Der Forscher ist sich sicher: Paarbindung, aber auch Revierverteidigung und Gruppenzusammenhalt sind die Gründe für das Affenkonzert.

    Als Vorläufer äffischer Tonlust hat Geissmann so genannte loud calls ausgemacht: laute Rufe, wie sie etwa Schimpansen ausstoßen. Gleich mehrmals habe sich bei Primaten aus den loud calls Gesang entwickelt: “Es sollte mich doch sehr wundern, wenn sich die Musik des Menschen nicht auch aus solchen Rufen herleitet.”

    Tatsächlich fällt es Wissenschaftlern nicht schwer, auch beim Menschen Indizien für implizite Musikalität aufzuspüren. Besonders Kleinkinder sind dabei begehrte Versuchsobjekte, weil ihre Reaktion auf Klänge nur wenig von kulturellen Einflüssen überformt ist.

    Im Labor der kanadischen Psychologin Sandra Trehub beispielsweise ist alles auf die kleinen Probanden eingestellt. Teletubbies und Spielzeugautos liegen herum. An der Decke hängen Mobiles. An den Wänden kleben bunte Poster.

    Trehub sucht im Gehirn von Kindern nach den neuronalen Wurzeln der Musik. Das Prinzip der Versuche ist denkbar einfach: Über einen Lautsprecher spielt die Forscherin Babys Melodien vor, die auf einer bestimmten Tonart basieren. In unregelmäßigen Abständen jedoch sind einzelne schiefe Töne in die Melodie eingeflochten. Das Verblüffende: Die Kleinen merken die Dissonanz. Jedes Mal, wenn ein unpassender Ton kommt, halten sie inne und drehen ihren Kopf zum Lautsprecher.

    Schon sechsmonatige Kinder reagieren auf diese Weise auf Musik, hat Trehub herausgefunden. Andere Forscher verlegen den Beginn der Musikalität sogar noch weiter nach vorn. Ab dem zweiten Lebensmonat nehmen Babys demnach bereits Rhythmuswechsel wahr. Ja, selbst Ungeborene sind schon empfänglich für musikalische Reize.

    Bis ins Erwachsenenalter reagiert der Mensch höchst empfindlich auf Musik – auch dann, wenn er dies selbst gar nicht merkt. Das wies der Leipziger Psychologe Stefan Kölsch nach, als er Versuchspersonen, die sich selbst als unmusikalisch bezeichneten, Akkordfolgen vorspielte. Wie bei Trehubs Experimenten hatte Kölsch unpassende Akkorde in seine Klangfolgen gemogelt. Profi-Musiker sind darauf geschult, solche Misstöne zu erkennen. Die Laien in Kölschs Experiment jedoch bestritten vor Beginn des Versuchs, derlei Nuancen wahrnehmen zu können.

    Ganz anders war Kölschs Befund: Er belauschte die Gehirnströme seiner Probanden mit Hilfe einer Art verkabelter Badekappe. Das entstehende Elektroenzephalogramm (EEG) gibt Aufschluss darüber, welche Hirnregionen jeweils aktiv sind. Binnen wenigen Millisekunden, so konnte Kölsch auf diese Weise nachweisen, reagierte das Hirn seiner Versuchspersonen auf die schrägen Töne. Das Fazit des Forschers: “Auch so genannte Nichtmusiker sind hoch sensibel für kleinste musikalische Variationen.”

    Kölschs und Trehubs Experimente zeigen, dass Menschen Musik offenbar schon sehr früh und sehr universell verstehen. Die Frage indes, ob dieses Verständnis genetisch bedingt oder kulturell geprägt ist, beantworten sie nicht. Genau das aber ist der zentrale Punkt, wenn es um die evolutionäre Bedeutung der Musik geht: Ist sie letztlich nur ein Kulturprodukt? Oder hat die Natur dem Homo sapiens die Harmonielehre gleichsam ins Erbgut diktiert?

    Experimentell ist die Frage kaum zu beantworten, denn dazu wären Probanden nötig, die bisher fern aller Musik gelebt haben. Und die gibt es praktisch nicht. Denn nie war so viel Musik wie heute. Im Auto, in der Küche, am Arbeitsplatz: Überall dudelt das Radio. Kein Supermarkt, keine Bahnhofshalle und kein Wartesaal kommt ohne Beschallung aus. Derart dauerberieselt könnten selbst Ungeborene unbewusst die Gesetze der Harmonie erlernen, argumentieren manche Forscher.

    Sicher allerdings ist, dass zunehmend die Grenzen der Musikkulturen verschwimmen. Längst ist der Pop zum transkulturellen Experimentierfeld geworden. Der Stand der Globalisierung ist nirgends besser zu erkennen als am Grad der Vermengung von Stilen. Da dröhnt Robbie Williams noch im entlegensten Dorf Papua-Neuguineas aus dem Radio. Gleichzeitig werden in London Dancefloor-Rhythmen mit Sitars unterlegt. Heißt das, dass Musik von allen Menschen ähnlich verstanden wird?

    “Oberflächlich betrachtet könnte man diesen Eindruck gewinnen”, sagt die Berliner Musikwissenschaftlerin Susanne Binas vom Forschungszentrum Populäre Musik. Wer jedoch genauer nachforsche, stelle rasch fest, dass derselbe Hit keinesfalls überall gleich wahrgenommen werde: “Musik funktioniert wie Seifenopern – je nach lokalem Hintergrund wird sie umgedeutet und kann deshalb sehr verschieden gehört werden.”

    Tatsächlich ist Musik so vielfältig und alt, dass es schwierig erscheint, aus der Vielzahl der Stile und Traditionen eine Art Quintessenz zu ziehen.

    Schon die Ägypter bliesen mit dicken Backen Trompete und Doppelrohrblattpfeife; die Sumerer zupften vor mehr als 5000 Jahren Harfe und Leier. Selbst in der Steinzeit scharten sich die Menschen schon zur Musik ums Lagerfeuer. So fanden Tübinger Forscher 1973 im Geißenklösterle, einer Höhle nahe Blaubeuren, eine Flöte aus Schwanenknochen. Das Instrument weist drei Grifflöcher auf, sein Alter wird auf 35 000 Jahre geschätzt (siehe Grafik Seite 132).

    Rhythmische Strukturen werden in verschiedenen Erdteilen unterschiedlich interpretiert. Auch Tonleitern sind im Laufe der Menschheitsgeschichte gleich mehrfach entwickelt worden. So kennt etwa die indonesische Musik nur zwischen fünf und sieben Stufen in der Oktave. Die indische Musiktheorie teilt sie in 22 gleiche Intervalle ein, während das hiesige System mit 12 Halbtönen auskommt.

    Und nicht einmal die Wirkung von Dur und Moll ist universell. Die Griechen etwa unterschieden in ihrer ausgefeilten Musiktheorie noch sieben verschiedene Tonleitern, denen sie bestimmte Wirkungen auf den Menschen zuordneten. Erst ab dem 16. Jahrhundert verarmte die Vielfalt zum heute in der westlichen Welt gängigen Dur-Moll-System.

    Verdankt die Musik ihre Wirkung also doch nur einer kulturellen Konvention? Keineswegs: Zwar sind all ihre Spielarten Ergebnis lokaler Tradition, aber ihr innerster Gehalt ist doch verfasst in einer universellen Sprache. Den Rahmen stecken dabei die Physiologie und die Physik des Schalls. So unterschiedlich die Tonsysteme der Welt auch sein mögen – jedes von ihnen kennt zum Beispiel Grundtöne, die dem Hörer Orientierung verschaffen, und jede Melodie kehrt immer wieder zu dem gewählten Grundton zurück.

    Stets gründen Tonsysteme zudem darauf, dass Töne im Abstand einer Oktave (also exakt doppelter Frequenz) als wesensverwandt empfunden werden. “Die Oktavgleichheit ist das einzige universell gültige harmonische Prinzip”, sagt der Musikforscher Jourdain: “Sänger glauben sogar manchmal, den gleichen Ton zu singen, obwohl sie in Wirklichkeit eine Oktave auseinander sind.”

    Gerade wenn Männer und Frauen eine Melodie zusammen singen – die Männer eine Oktave tiefer als die Frauen -, ist dieses Phänomen offensichtlich und wird doch gleichzeitig als vollkommen natürlich wahrgenommen.

    Und das ist kein Zufall. Denn tatsächlich kommt die Oktave schon in der Natur vor. Sie und mit ihr viele andere Elemente von Melodie und Harmonie haben ihre Wurzeln in den von schwingenden Gegenständen hervorgerufenen Klängen. Ob Baumstamm, Stein oder Trommel – immer besteht der Klang keinesfalls nur aus einem Ton, sondern aus vielen verschiedenen, die erst zusammen die Klangfarbe ausmachen.

    Über dem vor allem wahrgenommenen Ton erklingen im Hintergrund so genannte Obertöne. Sie sind sehr leise, werden im Gehirn jedoch mit verarbeitet und bestimmen den Gesamteindruck von Musik wesentlich mit. Das Frappierende: Zu diesen in der Natur allgegenwärtigen Obertönen zählen eben genau die Oktaven – aber beispielsweise auch der Dur-Dreiklang, der gerade im westlichen Tonsystem eine herausragende Bedeutung hat.

    Die natürlichen Obertöne sind es auch, die Musik schön, aber auch scheußlich klingen lassen. Ob sich bei einem Konzert vor Grauen die Nackenhaare sträuben oder ob wohlige Schauer den Rücken hinunterlaufen, hängt maßgeblich davon ab, welche Obertöne der Klang enthält.

    Liegen viele von ihnen zu nah beieinander – so der Fall etwa beim Zusammenklang von zwei Tönen, die nur einen Halbton voneinander abweichen – schlägt das Ohr Alarm, die Harmonie geht flöten.

    Sinnesforscher haben inzwischen die Erklärung dafür gefunden: Weil im Innenohr nah beieinander liegende Frequenzen auch nah nebeneinander liegende Nervenzellen aktivieren, geht gleichsam die Trennschärfe zwischen den Tönen verloren. Die Nervenimpulse überlagern sich gegenseitig. Das Gehirn interpretiert dieses Durcheinander als ein unerträgliches Wimmern.

    “In der Musik ist unglaublich viel durch schwingende Körper und die Physiologie des Gehörs bereits festgelegt”, fasst der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer die Erkenntnisse zusammen**. Das Ohr habe sich den “Klängen, die es aus der Natur kennt, angepasst”. Auch die – letztlich willkürliche – Einteilung der Oktave in zwölf jeweils gleich weit voneinander entfernte Halbtöne in der abendländischen Musik sei schlüssig, weil sie den natürlichen Klangerfahrungen so gut wie irgend möglich gerecht werde.

    So wird deutlich, dass sich Musik trotz ihrer Vielfältigkeit in ihren Grundzügen kulturübergreifend stark ähnelt und immer denselben Naturgesetzen folgt. Die universelle Gültigkeit musikalischer Regeln ist damit jedoch noch lange nicht am Ende. Denn was die Forscher vor allem von der Ursprünglichkeit der Musik überzeugt, ist ihre emotionale Kraft.

    Wo immer Musik auch gespielt wurde und wird: Immer schon war sie das, was Leo Tolstoi als “Kurzschrift des Gefühls” bezeichnete. “Nachdem ich Chopin gespielt habe, fühle ich mich, als hätte ich über Sünden geweint, die ich nie begangen habe, und über Tragödien getrauert, die nicht die meinen sind”, bekannte Oscar Wilde. Thomas Mann wiederum verzückte eine einzige Note am Ende von Beethovens Klaviersonate Nummer 32 in c-Moll Opus 111.

    Eine kleine Variation des Motivs nur, “vor dem d ein cis”, bringt in seinem Roman “Doktor Faustus” den Organisten Wendell Kretzschmar ins Schwärmen: Die “rührendste, tröstlichste, wehmütig versöhnlichste Handlung von der Welt” sei dieses cis, “wie ein schmerzlich liebevolles Streichen über das Haar”. Mit “überwältigender Vermenschlichung” lege dieser eine Ton das Stück dem Hörer zum “ewigen Abschied so sanft ans Herz, dass ihm die Augen übergehen”.

    Es scheint vermessen, sich solchen zutiefst persönlichen Erfahrungen mit den Mitteln nüchterner Wissenschaft zu nähern. Und doch hat der britische Psychologe John Sloboda genau das versucht. Er hat seine Probanden nach ihren Gefühlen beim Hören von Musik befragt. 80 Prozent gaben an, dass bestimmte Stücke bei ihnen körperliche Reaktionen auslösen. Lachen und Weinen wurden ebenso genannt wie Gänsehaut, Herzklopfen oder Kloßgefühl in der Kehle.

    Die Erfahrungen der verschiedenen Hörer stimmten dabei verblüffend gut überein. Bachs h-Moll-Messe, so fand Sloboda beispielsweise heraus, rührt stets beim “Dona nobis pacem” in Takt 40 bis 42 zu Tränen. Der Anfang von Elfmans “Batman Theme” jagt Schauer über den Rücken. Bei Beethovens Klavierkonzert Nummer 4 in G-Dur drückt in Takt 191 des dritten Satzes der Magen.

    Zu den Auslösern der unvermittelten Gefühls-

    wallungen gehören plötzliche Lautstärkewechsel, unerwartete Harmonien oder Melodien, die gleichsam von Ferne durch den Teppich der Begleitung dringen. Auch eine einsetzende Singstimme, eine Verzögerung der Schlusskadenz oder synkopische Rhythmen können im Organismus Gefühle wecken. “Gänsehaut-Faktoren” nennt Eckart Altenmüller derlei musikalische Elemente, die Komponisten zu allen Zeiten zu nutzen wussten.

    Rachmaninows zweites Klavierkonzert dient als Trostpflaster bei Liebeskummer. Mozarts g-Moll-Sinfonie löst freudig-banges Herzzittern aus. Bei Bach wiederum ist es die für die meisten Hörer gleichsam immanente Erhabenheit der Musik, die fasziniert – ein Umstand, der oftmals als Resultat einer Art genialer mathematischer Ordnung im Werk des Meisters interpretiert wird. Doch eine solche versteckte Zahlensymbolik zu finden, haben sich ganze Generationen von Musiktheoretikern weitgehend erfolglos bemüht. Zwar setzt etwa im Choralvorspiel “Dies sind die heiligen zehn Gebot” das Fugenthema zehnmal ein, im “Herr, bin ich”s” der Matthäus-Passion erklingt das Wort “Herr” elfmal – entsprechend der Anzahl der Jünger.

    Doch darüber hinaus ist Bachs angebliche Zahlensymbolik keinesfalls bewiesen und verkommt oftmals zum reinen Abzählspiel. Ob beispielsweise die Menge der Basso-continuo-Töne eines Arioso in der Matthäus-Passion auf einen alttestamentlichen Psalm verweisen soll, dessen Worte die entsprechende Evangelistenpassage kommentieren, erscheint vielen Musikwissenschaftlern heute als fragwürdig.

    Dennoch spielt die Mathematik in der Musik schon deshalb eine wesentliche Rolle, weil sie sich zwangsläufig im Rhythmus wiederfindet, der jedes Lied vorwärts treibt. Im Marsch wird das starre Korsett des Viervierteltakts besonders deutlich. Mit der Präzision eines Uhrwerks drehen sich die Derwische im Tanz. Der Walzer ist deshalb so schwungvoll, weil ihn sein Dreiertakt mit Macht vorwärts treibt.

    Besonders ergreifend wird Musik jedoch gerade dann, wenn sie mathematisch unscharf wird und sich gleichsam gegen einen allzu starren Rhythmus auflehnt. Ein faszinierendes Beispiel hierfür liefert der Swing: Swing ist das Herz des Jazz. Er erst erweckt Jazzmusik zum Leben und macht den Unterschied zwischen solcher Musik, die einen kalt lässt, und solcher, bei der jeder Fuß mitschwingen muss.

    Doch wann swingt Musik? Die Grundstruktur des Swing-Rhythmus besteht darin, die Achtelnoten der Musik abwechselnd lang und kurz zu spielen. In Schlagzeugschulen taucht deshalb vielfach die Anweisung auf, die erste von jeweils zwei Noten doppelt so lang zu spielen wie die zweite. Doch diese exakte Regel funktioniert in Wahrheit nicht. “Wenn man das wörtlich nimmt, lernt man nie zu swingen”, sagt der schwedische Physiker Anders Friberg.

    Friberg hat das Spiel berühmter Jazz-Schlagzeuger wie Tony Williams, der mit Miles Davis zusammenspielte, oder Jack DeJohnette, Mitglied des Keith-Jarrett-Trios, analysiert. Das Ergebnis: Je nach Tempo spielen die Profis den Swing vollkommen unterschiedlich. Ist er langsam, verlängert sich beispielsweise auch die erste der jeweils zwei Achtelnoten unverhältnismäßig stark.

    Neben den Schlagzeugern verletzen auch die Jazz-Solisten systematisch den Grundrhythmus. Gute Musiker verkürzten die eine Note, verzögerten die andere und akzentuierten die dritte, berichtet Friberg. Beim Jazz ist dieses Phänomen extrem – und erst dadurch entfaltet diese Musikrichtung ihre emotionale Wirkung.

    Friberg hat seine Erkenntnisse inzwischen in komplizierte mathematische Algorithmen übersetzt. Sogar nervig-piepsigen Handy-Klingeltönen kann der Physiker damit erstaunliches Leben einhauchen – sie wirken viel lebendiger, nicht mehr so automatenhaft.

    Viele Komponisten verstanden und verstehen es zudem meisterhaft, mit der Spannung zwischen Wohlklang und Dissonanz zu spielen und damit die Gefühle der Zuhörer zu beeinflussen. Dem Franzosen Claude Debussy etwa kam dabei der Zufall zu Hilfe. Auf der Weltausstellung in Paris von 1889 lernte der Musiker den Klang javanischer Musikinstrumente kennen. Die gewöhnungsbedürftige Harmonik eines auf der Ausstellung gezeigten Gamelan – bestehend aus metallenen Gongs und Xylofonen – faszinierte den Künstler so sehr, dass er fortan mit der sechsstufigen Ganztonleiter experimentierte. Damit schuf Debussy Harmonien, die sich radikal von denen Bachs, Beethovens oder Brahms” unterschieden.

    Auf die Spitze trieb den Verzicht auf jegliche Harmonik schließlich in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts der österreichische Komponist Arnold Schönberg mit seinem Zwölftonsystem. Sein Ziel war unter anderem der völlige Verzicht auf den Grundton. Kein Ton der Tonleiter sollte in der Zwölftonmusik öfter vorkommen als ein anderer. Oktaven waren bei ihm verpönt. Klänge mit besonderem Charakter vermied er wo immer möglich.

    Schönberg wollte die traditionelle Harmonik ersetzen, um die Musik weiterzuentwickeln – und löste doch nur unverständiges Stirnrunzeln aus. “Sie bedienen sich der gleichen Tricks wie die schauerlich-schöne Achterbahn auf Jahrmärkten und Vergnügungsparks, in denen die vergnügungssüchtigen Besucher so durchgeschüttelt werden, dass sich sogar bei einem unbeteiligten Zuschauer das Innerste brezelartig verdreht”, spottete etwa der deutsche Komponist Paul Hindemith über die Zwölftöner. Hindemith glaubte nicht daran, dass das Publikum sein kulturell tief verwurzeltes System musikalischer Erwartungen ohne weiteres abwerfen könne.

    Und tatsächlich scheint die Biologie gegen die Zwölftonmusik zu sprechen – zumindest dagegen, dass sie tatsächlich gefallen könnte. Zwar lauscht das Konzertpublikum ergeben der Musik Schönbergs und seiner Nachfolger. Genießen kann es die Töne jedoch kaum. “Obwohl allerhand interessante Dinge in dieser Musik zu finden sind, klingt sie für die meisten Menschen einfach nicht harmonisch, sie tut direkt weh”, sagt der Musikforscher Jourdain.

    Musik kann buchstäblich Schmerzen verursachen. Auf der anderen Seite treibt sie zur Ekstase – und zwar tatsächlich abhängig davon, welche harmonischen oder musikalischen Tricks, welches Handwerkszeug der Komponist benutzt. Heute ist es vor allem die Filmmusik, die sich dieser Mechanismen meisterhaft bedient – und dies, obwohl gerade im Kino die Musik kaum bewusst wahrgenommen wird.

    “Ein Film ohne Musik kann meistens keine Gefühle transportieren”, ist der deutsche Hollywood-Starkomponist Hans Zimmer überzeugt (siehe Gespräch Seite 142). Schon das unbewusste Hören macht die Kampfszenen in “Gladiator” so richtig dramatisch und “Hannibal” Lecters Treiben zum echten Schocker.

    So wie ein Lichtstrahl die Augen und ein Geräusch die Ohren anspricht, so scheint ein Akkord den Gefühlssinn des Menschen zu reizen – und ebendiese Tatsache ist es, die Forscher immer mehr von der archaischen Kraft der Musik überzeugt. Unterstützt werden sie von Hirnforschern, die untersuchen, wie jene unmittelbaren reflexhaften Gefühlsreaktionen verschaltet sind.

    Rätselhaftes und Faszinierendes hat die Wissenschaft inzwischen darüber zusammengetragen, auf welche Weise Musik in

    der grauen Masse wirkt. Wie etwa ist die Begabung des blinden Autisten Tony DeBlois zu erklären, der, obwohl geistig behindert, achttausend Klavierstücke beherrscht und als Jazzmusiker reüssiert? Was ist vom Schicksal des russischen Komponisten Vissarion Shebalin zu halten, der, obwohl durch einen Schlaganfall der Sprachfertigkeit beraubt, noch seine fünfte Symphonie komponierte?

    Gerade neurologische Schäden sind für Hirnforscher wie Musikologen ein Quell der Inspiration. So untersuchte etwa Isabelle Peretz von der University of Montreal in Kanada Menschen, die durch Hirnblutungen plötzlich vollständig ihre Fähigkeit verloren, Musik zu begreifen. Zwar konnten die Patienten noch normal sprechen und auch Geräusche wie Hundegebell wahrnehmen. Einst vertraute Lieder jedoch waren aus ihrem Gedächtnis getilgt. “Für diese Patienten gleicht Musik einer Fremdsprache”, sagt Peretz. Als Ursache vermutet die Forscherin eine Störung in der primären Hörrinde, gleichsam der Schaltzentrale des Hörens.

    Mit Erstaunen beobachten die Forscher auch, wie sich ganze Strukturen im Gehirn verändern, wenn es dauerhaft und intensiv mit Musik konfrontiert wird. So ist bei Profimusikern beispielsweise das Corpus callosum um bis zu 15 Prozent dicker – jenes Faserbündel, das die beiden Hirnhälften miteinander verbindet. Auch enthält ihre Hörrinde 130 Prozent mehr graue Masse als die von Nichtmusikern. Bei Menschen mit absolutem Gehör – sie können ohne Vergleichston eine bestimmte Tonhöhe identifizieren – ist eine bestimmte Gehirnwindung im linken Schläfenlappen vergrößert.

    Inzwischen wissen die Forscher, dass die linke Hirnhälfte – in ihr wird auch Sprache verarbeitet – eher für Rhythmen, die rechte dagegen für Klangfarben und Tonhöhen verantwortlich ist. Weiter vorn liegende Hirnregionen schließlich sind für kulturell bedingte musikalische Vorlieben od er Assoziationen zuständig (siehe Grafik Seite 135).

    Vor allem aber gelang es in jüngster Zeit, die Schaltzentrale der durch Musik ausgelösten Gefühle dingfest zu machen. Der Musikforscher Altenmüller beispielsweise bat Musikstudenten, kurze Rock-, Pop-, Jazz- und Klassiksequenzen sowie Umweltgeräusche emotional zu bewerten. Bei als schön empfundenen Klängen regte sich die linke Schläfen- und Stirnregion des Großhirns. Bei unangenehmer Musik feuerten die Neuronen rechts. Das Interessante: Ebendiese Hirnareale werden auch bei Gefühlen aktiv, die durch gänzlich andere Reize ausgelöst sind.

    Ähnliche Ergebnisse lieferte eine Untersuchung der kanadischen Neurologen Anne Blood und Robert Zatorre. Ihre Probanden wählten solche Musik aus, die ihnen “Schauer den Rücken hinunterschickte”. Mittels Positronenemissionstomografie (PET), die lokale Hirndurchblutungsänderungen erkennt, bildeten die Forscher dann die beim Hören dieser Musik aktiven Hirnareale ab.

    Das Ergebnis: Musik hat tiefgreifende Wirkung auch auf das so genannte limbische System, das auch “Tor zur Emotion” genannt wird. “Schöne Musik aktiviert Zentren im Gehirn, die glücklich machen”, sagt Blood. Es handele sich dabei um dieselben Hirnregionen, die auch beim Essen, beim Sex oder bei Drogenkonsum aktiv würden, so die Forscherin. Gleichzeitig vermindere sich die Aktivität beispielsweise in den so genannten Mandelkernen, die bei Angst aktiviert würden.

    “Musik stimuliert das körpereigene Selbstbelohnungssystem”, bilanziert Altenmüller. Neuronale Strukturen tief in jenen entwicklungsgeschichtlich alten Regionen des Gehirns würden aktiviert, die direkt für Emotionen verantwortlich seien. Selbst bei verschlossenen, apathischen, autistischen oder geistig behinderten Menschen riefen Klänge häufig emotionale Reaktionen hervor. Altenmüller: “Musik hat sehr wahrscheinlich eine uralte und wichtige Funktion für den Menschen.”

    Was also hat den Menschen zum Homo musicus gemacht? Ist das Wiegenlied Ursprung aller Musik, wie sich aus Sandra Trehubs Experimenten folgern ließe? Hat Musik etwas mit Revierverteidigung oder Paarbindung zu tun, wie es die Gesänge der Gibbons im indonesischen Regenwald nahe legen? Oder sollte auch bei der Musik der unter Evolutionsbiologen so oft bemühte Sex die treibende Kraft sein?

    Schon Darwin zog die Parallele zum Gesang der Vögel. Vormenschliche Männer und Frauen, noch nicht mit der Poesie der Sprache gesegnet, hätten sich möglicherweise “mit Noten und Rhythmen umworben”, vermutete er 1871 in “The Descent of Man”. Auch der Psychiater Manfred Spitzer hält Musik für eine Folge der so genannten sexuellen Selektion – und erklärt die Entstehung des menschlichen Genius gleich mit. Der Mensch habe auch deshalb ein immer größeres Gehirn entwickelt, weil er mit dessen Leistungsfähigkeit – ausgedrückt durch Musik – das weibliche Geschlecht beeindrucken konnte. Musik sei also eine Art Fitness-Indikator des Mannes, vergleichbar etwa mit dem Rad des Pfaus.

    Diese Theorie jedoch hat eine offensichtliche Schwäche: “Die rein männliche Besetzung der Wiener Philharmonie einmal ausgenommen, gibt es keine Anzeichen, dass Männer musikalischer sind als Frauen”, spottet der US-Musikforscher David Huron von der Ohio State University.

    Für viel wahrscheinlicher hält Huron, dass Musik einst entstand, weil sie den Zusammenhalt von Gruppen förderte. “Menschen sind extrem auf soziale Beziehungen angewiesen”, sagt der Forscher. Nur weil sie gemeinsam handelten, konnten die frühen Jäger-Sammler-Trupps bestehen.

    Als Beispiel führt Huron die brasilianischen Mekranoti-Indianer an, die bis heute am Amazonas als Jäger und Sammler leben. Musik, berichtet Huron, spielte eine zentrale Rolle im Alltag dieses Stammes. Für mehrere Monate im Jahr machen es sich die Mekranoti-Frauen jeden Morgen und Abend auf Bananenblättern bequem und singen für ein bis zwei Stunden. Die Männer kriechen sogar schon um halb fünf Uhr morgens aus ihren Hütten und stimmen mit tiefem Bass ihre Gesänge an.

    “Die Männer singen, um sich als Gruppe zu definieren und den Nachbarn mitzuteilen, dass sie wach und aufmerksam sind”, sagt Huron. Der frühe Morgen sei die beste Zeit zum Angriff. Mit dem Gesang signalisierten die Mekranoti ihre Verteidigungsbereitschaft und Geschlossenheit.

    Auch der japanische Evolutionsforscher Hajime Fukui glaubt an die Theorie von der Musik als sozialem Kitt. Denn je mehr die Urmensch-Gruppen anwuchsen, desto wichtiger wurde es, soziale und sexuelle Spannungen zu schlichten. “Möglicherweise”, meint Fukui, “war da Musik die Lösung.”

    Gemeinsames Musizieren senkt bei Männern die Konzentration des Aggressionshormons Testosteron und bei beiden Geschlechtern die Ausschüttung des Stresshormons Cortison. Die Produktion des Hormons Oxytocin dagegen, das soziale Bindungen fördert und beispielsweise auch die Mutter-Kind-Bindung verstärkt, wird durch Musik erhöht. “Nationalhymnen, Arbeitslieder, Partymusik und Kriegsgesänge haben alle denselben Effekt”, sagt Fukui, “sie reduzieren Angst und Spannung und erhöhen die Solidarität.”

    In allen Zeiten wirkte Musik auf diese Weise. Zusammen zu singen und zu tanzen, selbst nur gemeinsam Musik zu hören schweißt Menschen zu Stämmen, zu Dörfern und zu Nationen zusammen. Zur Musik ziehen Menschen in den Krieg und begraben ihre Toten. Menschen singen, wenn sie sich Mut machen wollen und wenn sie trauern. Musik erklingt bei Triumphzügen, Hochzeiten und in Fußballstadien.

    Bis zum heutigen Tag definieren sich viele Gruppen durch ihre Musik. Der Pop-Olymp ist voller Identifikationsfiguren für ganze Jugendkulturen. Da gibt es die unsterblichen Woodstock-Propheten Jimi Hendrix und Janis Joplin, die die Flower-Power-Generation mit ihren Liedern vereinte. Die rechtsradikale Szene trifft sich heute auf “Glatzenkonzerten” bei Bands mit so geschmacklosen Namen wie “Oithanasie” oder “Zillertaler Türkenjäger”. Die Techno-Nomaden verausgaben sich zu wummernden Beats auf der alljährlich wiederkehrenden Love Parade. Für Teenies dagegen sind Pop-Sternchen wie Britney Spears oder der Böse-Mädchen-Verschnitt Avril Lavigne sinnstiftend.

    Von jeher haben Priester wie Politiker die enorme Wirkung von Musik erkannt. “Musik ist eine Hure”, bemerkte schon Ernst Bloch. Elias Canetti philosophierte über das Phänomen des Rhythmus, der einer formierten Masse den Eindruck von Größe, Ganzheit und Stabilität suggeriert.

    Das abstoßendste Beispiel dafür lieferten die Nationalsozialisten. Als Hitler 1933 an die Macht kam, kontrollierte binnen kurzer Zeit Joseph Goebbels mit seinem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda das gesamte kulturelle Leben. Auch die Musik wurde zensiert und von der Politik instrumentalisiert. Jazz und Blues wurden als “entartet” verboten. Um Richard Wagner dagegen entstand ein mythischer Kult. In Beethoven feierte man das “Nordische”.

    Auch andere Mächtige nutzten und nutzen die Macht der Musik. Zum Fall der Berliner Mauer etwa brummelte sich die ganze deutsche Polit-Prominenz durch die Nationalhymne. Auch das Trauma des 11. September versuchten die Regierenden spontan musikalisch zu lindern: Am Abend des Terrorakts sangen die versammelten Kongress-Abgeordneten auf der Treppe vor dem Ostflügel des Kapitols “God bless America”. Mit einem einzigen Lied gaben sie einer ganzen Nation Trost.

    Oder die Kirche: Der Hauptgottesdienst der Katholiken ist ohne den liturgischen Gesang gar nicht denkbar. Erst die “Musica sacra” verleiht der Liturgie ihre heiligende Legitimation. Der Text wird durch die Musik dem normalen Sprechen enthoben und vereint dadurch die Gemeinde im Geiste – eine sinnstiftende Kraft, die sich in der Reformation wiederum gegen Rom richtete: Martin Luthers Kampflied “Ein” feste Burg ist unser Gott” schweißte die Protestanten zusammen und gab ihnen Mut, den Katholiken zu trotzen.

    Diese vereinende Macht der Musik ist es vor allem, die Forscher in ihrer Gruppentheorie der Musikevolution bestätigt. Über den genauen Weg des Menschen zur Musik kann indes nur spekuliert werden.

    Vermutlich spielte dabei das eine wesentliche Rolle, was die Forscher “Gruppensynchronisation” nennen: Alle fangen auf einmal an zu schreien. Doch langsam kommt Ordnung in das Chaos – etwa so, wie Beifall sich irgendwann automatisch zu rhythmischem Klatschen organisiert. Ein einheitlicher Sound aus zahlreichen Kehlen verschreckt den Feind höchst effektiv und gibt dem Einzelnen das Gefühl, Teil einer starken Gruppe zu sein.

    “Wohl organisiertes Rufen ist möglicherweise viel beeindruckender als eine Kakophonie aus vielen Einzelstimmen”, meint etwa Gibbon-Forscher Geissmann. Selbst für die Frage, warum sich das Geschrei schließlich in Klänge wandelte, hat Geissmann eine Theorie parat: Im Vergleich zu Rufen seien Gesänge weit eindrucksvoller, weil sie über längere Zeit und über größere Distanz zu hören seien.

    Aus dieser Art von Mut schürender und Schrecken verbreitender Protomusik, so die Vorstellung der Forscher, entstanden schließlich Musik und Sprache gleichermaßen.

    “Möglicherweise kommunizierten Frühmenschen schon vor der Entstehung der Sprache mittels einfacher Musik”, vermutet Eckart Altenmüller. Der Leipziger Psychologe Kölsch geht noch einen Schritt weiter: “Ohne ein ausgesprochenes Musikverständnis könnten wir gar keine Sprache lernen”, sagt Kölsch.

    Der Forscher verweist auf die so genannte Prosodie, jene Betonung und Rhythmik, die jeder Sprache innewohnt und die emotionale Botschaft des Gesprochenen transportiert. Zudem hat Kölsch in neuen Experimenten entdeckt, dass Musik auch just jenes Zentrum des Gehirns aktiviert, das als eines der wichtigsten Sprachzentren gilt: das so genannte Broca-Areal. Das Verblüffende: Die automatische Verarbeitung von Musikstrukturen läuft dort sogar schneller ab und beginnt in einem jüngeren Lebensalter als bei der Sprache – unabhängig davon, ob die Kinder Musikunterricht hatten oder nicht.

    “Musikalität ist eine uralte menschliche Fähigkeit”, fasst Ian Cross aus Cambridge die Theorien zusammen. Als eine Art “Spielplatz” des Bewusstseins betrachtet der Forscher die Musik. Gerade weil Musik im Kern frei interpretierbar sei, erlaube sie den kreativen Lauf der Gedanken und die Entwicklung von Phantasie, was für die Gehirnentwicklung unerlässlich sei.

    Erst das spielerische Jonglieren mit Tönen habe jenen “Quantensprung” in geistiger Beweglichkeit erlaubt, der dem Vormenschen den Weg aus dem Dschungel bahnte, glaubt der Forscher. “Ohne Musik”, sagt Cross, “wären wir vielleicht niemals zum Menschen geworden.”

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